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Erstes Kantonsreferendum seit 1874

Die Kantone proben den Aufstand gegen den Bund. Keystone

Das Volk wird über das Steuerpaket des Bundes entscheiden, welches kürzlich vom Parlament abgesegnet wurde.

Ein Kantonsreferendum müssen mindestens acht Kantone verlangen. Das ist jetzt passiert. Dieses politische Instrument wurde bisher noch nie angewendet.

Am Dienstag-Nachmittag hat der Kanton Waadt als achter Kanton entschieden, mit dem Kantonsreferendum in den Kampf gegen das geplante Steuerpaket des Bundes zu ziehen. Grund: Die Kantone müssten mit 2 Mrd. Franken weniger Steuer-Einnahmen pro Jahr rechnen.

Der Waadtländer grosse Rat hat mit 89 zu 69 Stimmen bei 4 Enthaltungen entschieden, das Kantonsreferendum zu ergreifen. Der Entscheid muss am kommenden Dienstag noch in zweiter Lesung genehmigt werden. Der Waadtländer Finanzdirektor Pascal Broulis rechnet aber mit einer Zustimmung. Die Stimmendifferenz sei dazu gross genug, sagte er.

Frist noch bis zum 9. Oktober

Die Waadt ist der achte Kanton, der sich entscheidet, das Referendum zu ergreifen. Bereits dafür entschieden haben sich St. Gallen, Bern, Graubünden, Solothurn, Wallis, Basel-Stadt und Obwalden.

Eine Teilnahme am Referendum abgelehnt haben bislang die Kantone Zug, Aargau, Neuenburg, Luzern, Thurgau und Schwyz. Andere Kantonsparlamente müssen noch über eine Teilnahme entscheiden.

Formell zu Stande gekommen ist das Kantonsreferendum, wenn die Kantonsregierungen der Bundeskanzlei ihre Zustimmung schriftlich bis zum 9. Oktober mitgeteilt haben. Die Bundeskanzlei nannte als nächstmöglichen Abstimmungstermin den 8. Februar 2004.

Aufschiebende Wirkung

Deshalb hat das Zustandekommen des Kantonsreferendums zur Folge, dass das Steuerpaket nicht auf Anfang 2004 in Kraft treten kann. Damit bleiben dem Bund im Jahr 2005 Einnahme-Ausfälle im Umfang von rund 700 Mio. Franken erspart. Ein zweites Sparprogramm, wie es die bürgerliche Mehrheit im Parlament in der kommenden Session fordern will, dürfte zumindest fürs Jahr 2005 nicht nötig sein.

Das Steuerpaket, das die Kantone bekämpfen wollen, würde die Einnahmen von Bund und Kantonen um insgesamt 4 Mrd. Franken schmälern, was für Kantone und Gemeinden einen Verzicht in der Höhe von 2 Milliarden bedeuten würde.

Das Paket will Familien und Ehepaare um 1,22 Mrd. Franken und Hauseigentümer um 480 Mio. Franken entlasten. Das wurde am 20. Juni von der bürgerlichen Mehrheit des Parlaments entschieden.

Doppeltes Referendum möglich

Besonders umstritten sind die “Steuergeschenke” an die Hauseigentümer. Ein Referendum wird deswegen von der Grünen Partei und dem Mieterverband angestrebt. Deren Komitee hat noch nicht entschieden, ob es nun – nach dem Zustandekommen des Kantonsreferendums – sein eigenes Referendum zurückzieht. Bereits gesammelt wurden 35’000 Unterschriften. Gemäss Hubert Zurkinden, Generalsekretär der Grünen, wird noch diese Woche darüber entschieden.

Erfreut äusserte sich die Sozialdemokratische Partei (SP), die selbst nicht zum Referendumskomitee gehört. Nun entscheide das Volk über das “unsoziale Steuerpaket”, schrieb die Partei. Die SP hat auch entschieden, dem Referendumskomitee beim Sammeln der noch 15’000 benötigten Unterschriften unter die Arme zu greifen.

Politologe: Mehrfronten-Wahlkampf

Der Politologe Jermias Blaser vom Institut für Föderalismus der Universität Freiburg erklärt das Zustandekommen des Kantonsreferendums mit dem wachsenden finanziellen Druck auf die Kantone.

Bis in die späten 90er Jahre hätten die Kantone finanzielle Lasten auf die Gemeinden abwälzen können, sagt er. Seither nehme der Druck auf die Kantone aber stetig zu, und die Gemeinden könnten keine zusätzlichen Belastungen verkraften.

Bei den Kantonen, die sich bisher gegen das Referendum ausgesprochen haben, handelt es sich laut Blaser mehrheitlich um eher reiche Kantone. Sie hätten einen gewissen Handlungsspielraum mit ihren Gemeinden.

Gespannt ist der Politologe auf den Abstimmungskampf. Es werde ein veritabler “Mehrfrontenkrieg” entstehen: Die Ja-Kantone gegen den Bundesstaat, die Ja-Kantone gegen die Nein-Kantone und die Befürworter und die Gegner innerhalb der Kantone gegeneinander.

Für die Stimmbürger werde sich die Lage in jedem Fall komplex präsentieren.

swissinfo und Agenturen

Das fakultative Referendum wurde 1874 in der Verfassung verankert. Es kann von 50’000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern oder von 8 Kantonen verlangt werden.

Angestrebt wurde das Kantonsreferendum schon mehrfach, die letzten beiden Male beim Bundesgesetz über das internationale Privatrecht (1988) und beim Gewässerschutzgesetz (1991).

Bisher scheiterten aber alle Versuche, weil das Quorum der Kantone nicht erreicht wurde.

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