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Gegen die Schweizer Niedlichkeit

Peter von Matt nimmt sich einmal mehr der Schweizer Literatur-Szene an. Keystone

In seiner neuesten Aufsatzsammlung "Die tintenblauen Eidgenossen" widerspricht Peter von Matt dem uralten Vorurteil, dass die historisch verschonte Schweiz keine politische Literatur hervorbrachte und -bringt.

Zwei Kuriosa haben Peter von Matt über Akademikerkreise hinaus berühmt gemacht: Sein aufbrausend-witziger, immer wieder gern im Fernsehen wiederholter Diskussionsbeitrag am Klagenfurter Bachmannpreis 1991 gegen das Vorurteil seiner Jurykollegen, die Schweiz sei literarisch harmlos, weil welthistorisch verschont. Und Marcel Reich-Ranickis Ritterschlag zum «besten Schweizer Autor» knapp 10 Jahre später.

Als leidenschaftlicher, leicht verständlicher Anwalt für eine Schweizer Literatur, die besser ist als ihr Ruf, ist von Matt seitdem im virtuellen Branchenverzeichnis der Schweizer Intelligenzia eingeschrieben. Nicht zu Unrecht, wie sein neustes Buch zeigt.

Tintenblaue gibts überall

Obwohl beide Medienereignisse – Klagenfurt und Literaturpapst – die Qualitäten des hochgebildeten und eloquenten Hirntiers nur luftig streifen, sind sie doch relevant bezüglich seiner Aufsatzsammlung «Die tintenblauen Eidgenossen»: Auch hier wird die Schweizer Literatur von ihrer angeblichen Verschlafenheit und Harmoniesucht freigesprochen. Und auch hier braucht man kein Hochschulstudium, um Literaturwissenschaft zu «betreiben».

Als Einstieg empfiehlt sich die Rede von Matts anlässlich der Verleihung des Zürcher Kunstpreises 2000. Darin reagierte er auf eine von Journalisten in jenen – naziverbrechen-schwangeren – Tagen oft zitierte Anekdote aus dem Film «Der dritte Mann»: Während der Regierung der Borgias erlitt Italien Krieg, Terror und Blutrausch, brachte aber auch Michelangelo hervor, während die Schweiz in 500 Jahren Frieden dem weltweiten Kulturgut nur die Kuckucksuhr zufügte.

Krieg als Blutamme der Kultur

Leid gebiert nicht Kultur, entidealisierte von Matt die zugrundeliegende Prämisse. Nach dem 11. September scheint uns das einleuchtend, aber vor diesem Schock grassierte die zynische Vorstellung, dass aus grossem nationalem Leid grosse nationale Kultur entsteht.

Die politische Couleur leidgeborener Literatur, sofern sie denn überhaupt farbig war, war nach heutigen Begriffen meist rötlich-oppositionell, von Büchners Danton bis zu Grass’ kindertauglicher «Espede» aus dem Schneckentagebuch. Genau besehen spielten aber Rot, Grün, Braun und Schwarz in den wenigsten Literaturen der Welt führende Rollen. Von Matts Befund «tintenblau» gilt deshalb nicht nur für Eidgenossen.

Patriotismus ist wie Ehe

Im ersten Aufsatz des neuen Buchs untersucht von Matt daher nicht politische Spektren, sondern «Rausch und Cafard» – sprich Patriotismus und Ernüchterung – im Verhältnis zur nationalen Geschichte. Nähe und Distanz, so sein Befund, prägen das Verhältnis von Staaten und Literaten wie das von Ehepaaren. Die Schweiz und die Schweizer, so etwas später, müssten eigentlich schon lange geschieden sein.

Die wichtigsten Autoren der Schweiz, so von Matt, wurden von grossen europäischen Geschehnissen geprägt wie von existenziellen Übergangsriten: Frisch und Dürrenmatt waren 45-er, Meyer 71-er, Keller 48-er, Gotthelf 30-er, Niklaus Meienberg – ja was denn?

Von Matt verfolgt ohne Vorurteile Zeiten und Werke von Autoren – besonders liebevoll etwa Glauser und Walser – in ihrer gegenseitigen Bedingtheit. Welche Mythen herrschten? Welche Metaphern waren virulent, welche neu und erhellend? Eine ausgesprochene Regel – nämlich die Psychologie als «privat» nicht zu berücksichtigen – hält er zum Glück nicht ein.

Von Matts Aufsätze reichen bis zu Hürlimann, Widmer und Duvanel. Zu allen seinen Objekten gibt er Informationen, die man so noch nicht gekannt hat. Er agiert gleichsam als Schiebelok, die einen auf das richtige Gleis führt. Den Weg muss man selber machen.

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