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Krabbelgetier erobert den Schweizer Menüplan

Ob verarbeitet oder noch als solche erkennbar; Insekten dürften wohl bald den Schweizer Speiseplan aufmischen. Reuters

Ab 2016 sollen Konsumenten im Detailhandel Grillen, Mehlwürmer und Wanderheuschrecken als Lebensmittel kaufen können. Produzenten sind bereits in den Startlöchern. Doch noch bleiben einige Fragen offen.

In der Schweiz ist der kommerzielle Verkauf von Insekten als Lebensmittel verboten. Aber nicht mehr lange. Im trendigen Zürcher Quartier Kreis 5, unter den Bögen der neuen Flaniermeile am Bahnviadukt, sitzt Christian Bärtsch in einem Gemeinschafts-Arbeitslokal für soziale Unternehmer und Innovatoren. Nichts lässt darauf schliessen, dass hier die Zukunft der Schweizer Küche entstehen könnte. Doch wer ihm zuhört, spürt das Feuer, das im jungen Winterthurer für Insekten brennt.

Proteinquelle

In Asien werden Insekten oft und gerne gegessen. Auch die afrikanische und in Lateinamerika besonders die mexikanische Küche kennen krabbelnde Ingredienzen auf dem Teller. Gebraten, gekocht, im Teigmantel oder gar lebendig. Die UNO-Welternährungs-Organisation FAOExterner Link schätzt, dass weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen regelmässig Insekten verzehren.

Als Wirbellose brauchten sie weit weniger Futter als Schweine oder Rinder, um es in Körpermasse zu verwandeln, so die FAO. Weil sie viel weniger Wasser und Landressourcen verbrauchen und in der Zucht weniger Treibhausgase als etwa Kühe ausstossen, gelten sie als grüne Alternative zu Fleisch.

Für den Menschen seien Insekten von gesundheitlichem Nutzen, weil sie im Vergleich zu Fleisch und Fisch qualitativ horchwertiges Protein und andere Nährstoffe lieferten, so die FAO weiter. Zudem sei das Risiko gering, dass Insekten Tierkrankheiten wie Vogelgrippe oder BSE übertragen könnten. Auch an der Mailänder Weltausstellung 2015Externer Link zum Motto Ernährung wird der Verzehr von Insekten verstärkt thematisiert.

Bärtsch ist Mitgründer von “Essento”Externer Link, einem Jungunternehmen, das Lebensmittel aus Insekten herstellen will. Die Jungunternehmer sind überzeugt, dass ihre “schmackhaften Produkte in drei bis vier Jahren in den Regalen stehen” werden.

“Wir haben einen Burger aus Tenebrio-Larven [Mehlwurm] entwickelt, der nicht wie ein vegetarischer oder veganer Burger schmeckt, sowie einen Brotaufstrich, das Tenebrio-Paté. Aber auch Chips, Ravioli, Teigwaren, Brot. Es gibt extrem viele Anwendungsmöglichkeiten, wo wir diese wertvollen Inhaltsstoffe einsetzen können”, erzählt er. Ein “Versucherli” hat er leider nicht dabei.

Wichtig sei ihnen der soziale und ökologische Aspekt, die Idee der Nachhaltigkeit, betont Bärtsch mehrmals. So füttere man in der Pilotzucht in der Ostschweiz, die nicht besichtigt werden kann, Getreideabfälle aus der Mehl- und Müsliproduktion. Das Feuchtfutter wird aus Biokarotten-Abfall hergestellt, der sonst nicht mehr abgesetzt werden könnte.

Die Geheimhaltung betreibe man nicht aus tierschützerischer Sicht, “Tierschützer sind herzlich bei uns willkommen”, sondern es gelte, sich “gegen Konkurrenz abzugrenzen”, betont Bärtsch.

Er stellt aber klar, dass ihr Steckenpferd nicht die Zucht sei, “sondern das, was danach kommt”. Das Schwergewicht setzen die Jungunternehmer auf die Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Lebensmitteln aus Insekten.

Der Plan sei, vorläufig auf Zulieferer aus dem europäischen Ausland zu setzen, da in der Schweiz mit der Produktion noch niemand so weit sei. Man wolle aber keine “Hühnerzucht 2.0”, sondern setze hohe Standards an, “dass mit den Tieren respektvoll umgegangen wird”.

Urs Fanger züchtet bereits seit längerer Zeit Insekten industriell. Sein Unternehmen EntomosExterner Link produziert seit sechs Jahren Insekten für Haustiere, kann aber zurückblicken auf 27 Jahre Erfahrung in der Zucht von grossen Mengen für den Einsatz als Nützlinge im Pflanzenschutz. “Wir wären relativ schnell bereit. Wir sind in den Startlöchern”, sagt er.

Eine der drei Insektenarten, die zum Verzehr zugelassen werden sollen: Tenebrio molitor im Larvenstadium (Mehlwurm). sartore

Die Lobbyistin

Im Parlament setzt sich die grünliberale Waadtländer Nationalrätin Isabelle ChevalleyExterner Link für Insekten auf dem Teller ein. Sie hat dazu bereits mehrere Vorstösse lanciert. “Warum ist es in der Schweiz verboten, Insekten auf den Markt zu bringen, die in anderen Ländern verzehrt werden?”, fragte sie in ihrer jüngsten InterpellationExterner Link.

Sie habe erstmals in Burkina Faso Insekten gegessen, als sie in Ouagadougou ein Zentrum für Strassenkinder besucht habe, schreibt sie von den Komoren, wo sie auf Dienstreise ist. “Die Kinder luden mich ein, mit ihnen das Mittagessen zu teilen. Sie assen gegrillte Raupen des Sheanuss-Baums, deshalb habe ich davon gegessen. Es schmeckte sehr gut.”

Angepasstes Lebensmittelrecht

Ähnliche Genüsse sollen nun auch bald in der Schweiz im grossen Rahmen erlaubt sein. Der Bundesrat hat das Verordnungsrecht zum Lebensmittelgesetz überarbeiten lassen. Neu hinzu als Lebensmittel sollen die drei Insektenarten Mehlwurm, Heimchen und Wanderheuschrecke kommen.

Auch Acheta domesticus (Heimchen, eine Grillenart) soll zum Verzehr erlaubt werden. aquaportail.com

Die detaillierte Umsetzung des GesetzesExterner Link ist seit Ende Juni in Anhörung, interessierte Kreise können sich bis Ende Oktober 2015 zum Entwurf äussern. Warum wurden Insekten gerade jetzt darin aufgenommen? “Bislang haben vor allem gesundheitliche Bedenken dagegen gesprochen”, schreibt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) auf Anfrage. Nun habe sich gezeigt, dass mit den drei Insektenarten “positive Erfahrungen gesammelt” worden seien und diese “als geeignet für den Konsum” beurteilt würden.

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Parlamentarier als Versuchskaninchen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht (swissinfo.ch und SRF/RTS) Die Veranstaltung war Teil einer Kampagne zur Legalisierung der Insektenzucht für den menschlichen Verzehr, durchgeführt vom Waadtländer Verein “Grimiam”. Die Idee kann auf die Unterstützung der Vereinten Nationen (UNO) zählen. 2013 veröffentlichte die UNO-Welternährungs-Organisation FAO einen 200-seitigen Bericht, in dem sie die Nutzung von Insekten als Nahrungsmittel für Mensch und Tier bewertete.…

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Ob und wann genau Insekten als Lebensmittel zugelassen werden sollen, hänge auch von der Anhörung ab. Das BLV erwartet, dass dieses Verordnungspaket in der ersten Jahreshälfte 2016 in Kraft treten könnte. Gegenwärtig sei eine umfassende Risikobewertung im Gang. “Allenfalls kann es noch Änderungen/Anpassungen geben.

“Das BLV stützt sich dabei auf “alle verfügbaren Daten” zu Risiken und Nebenwirkungen beim Verzehr von Insekten. Dabei orientiere sich das Bundesamt laut Evelyn Kirchsteiger-Meier, Leiterin der Fachstelle Qualitätsmanagement und Lebensmittelrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), auch an einer Risikobewertung der belgischen Behörden.

Gefahrenherde

Diese hätten unter anderem vier Gefahrenherde umrissen, so Kirchsteiger-Meier: pathogene Keime, chemische Gefahren, allergenes Potenzial und physikalische Gefahren. Keime und Sporen davon könnten Insekten bei der Zucht befallen, weshalb “ein Erhitzungsschritt die mikrobiologische Sicherheit der Insekten gewährleisten” müsse, so die Expertin für Lebensmittelsicherheit.

Insekten könnten auch Toxine als Abwehrmechanismus einsetzen. Menschen, die allergisch auf Schalentiere reagieren, könnten Insekten womöglich ebenfalls nicht vertragen. Und schliesslich könnten Extremitäten oder Flügel von Insekten die Konsumenten beim Verzehr von ganzen Insekten verletzen.

Die Wanderheuschrecke (Locusta migratoria) vervollständigt die Liste der im Verordnungsrecht zum Lebensmittelgesetz aufgeführten Insekten. wikipedia

So bemerkt denn auch das BLV in den Erläuterungen zum neuen Verordnungsartikel, Insekten müssten vor der Abgabe tiefgefroren und einer Hitzebehandlung unterzogen werden, weil sie “möglicherweise Träger von Parasiten und krankmachenden Keimen sein können”.

Zudem müssten sie als Insekten erkennbar sein, also nicht verarbeitet. “Dies dient dem Täuschungsschutz, da die Konsumentenerwartung in unserem Kulturkreis dahin geht, dass Insekten als Schädlinge betrachtet werden.”

Insekten und der Tierschutz

Insekten werden als Wirbellose vom Tierschutzgesetz nicht erfasst. “Das bedeutet aber nicht, dass wir von einem respektvollen Umgang mit diesen Tieren entbunden sind”, betont Sara Wehrli vom Schweizer Tierschutz (STS) auf Anfrage.

So spielten bei Insekten “Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Substrate oder das Vorhandensein oder Fehlen von Parasiten oder Krankheitserregern eine wichtige Rolle”.

Laut Wehrli ist es “durchaus möglich, dass eines Tages das Tierschutzgesetz um die Insekten erweitert wird”. Allerdings müsse man vermutlich zuerst Erfahrungen mit der Massenproduktion von essbaren Insekten machen.

Ganz oder verarbeitet?

Die Insekten-Lobby ist mit der Aufnahme von Insekten in die Lebensmittel-Verordnung zufrieden. Doch mit diesem letzten Punkt können sie wenig anfangen, zeigte doch eine Studie, dass die Akzeptanz verarbeiteter Insekten-Produkte in der Schweiz wesentlich höher wäre (siehe Kasten unten).

“Essento” plant denn aus diesem Grund auch, “in erster Linie mit verarbeiteten Produkten” auf den Markt zu kommen. Bärtsch verpackt seine Kritik am Entwurf in Watte: “Das Feld ist noch offen”, betont er. “Wir sind jetzt intensiv mit verschiedenen Akteuren daran, Änderungsvorschläge auszuarbeiten.”

Es sei auch im Interesse der Produzenten, dass die Kunden wüssten, ob ein verarbeitetes Produkt Insekten enthalte. “Deshalb stehen wir in engem Kontakt mit dem Schweizerischen KonsumentenschutzExterner Link. Dort wurde grundsätzlich Offenheit signalisiert.” So diskutiere man gegenwärtig über eine Art Deklaration oder Herkunftsbezeichnung.

Chevalley ist soweit zufrieden mit der Verordnung. Nur ist für sie die Liste der essbaren Insekten “zu kurz”. Mit ihrer Lobbygruppe will sie nun den Aufbau einer Dachorganisation anregen, “die alle an dieser Produktion interessierten Organisationen und Unternehmen umfasst, um Kriterien für Zucht, Tötung und Hygiene festzulegen”.

Im privaten Rahmen sind übrigens bereits heute alle frei, Insekten an einem Privatanlass zur Degustation aufzutischen. Solche unterlägen nicht dem Lebensmittelgesetz, schreibt das BLVExterner Link. Guten Appetit.

Insekten? Geringes Interesse

Laut einer StudieExterner Link von Berner Konsumforschenden ist das Interesse an Lebensmitteln aus Insekten in der Schweiz eher bescheiden.

Die Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) befragte dazu 548 aus dem Telefonbuch zufällig ausgewählte Personen aus der Deutsch- und Westschweiz zu ihrer Bereitschaft, Insekten zu essen.

Am ehesten stimmten sie noch den Argumenten bezüglich Nachhaltigkeit und Gesundheit zu. Das waren auch die triftigsten Gründe, wieso Insekten in den Speiseplan integriert würden.

Die Bereitschaft dazu ist aber gering. Hauptgrund, wieso sie lieber die Finger davon lassen, ist für 44% der Befragten Ekel. Immerhin gaben rund 16% an, bereits einmal Insekten gegessen zu haben – die meisten aus Neugierde. Einem Viertel von ihnen reichte aber der einmalige Konsum.

In der Westschweiz sei die Thematik der Entomophagie (Verzehr von Insekten) nicht nur besser bekannt, Romands könnten es sich auch eher als Deutschschweizer vorstellen, verarbeitete, nicht erkennbare Mehlwürmer zu essen. Erkennbare Insekten lehnten die Befragten beider Sprachregionen eher ab.

Wer also Insekten-Produkte vermarkten wolle, solle behutsam vorgehen und in einem ersten Schritt Produkte ohne sichtbare Insekten anbieten, folgern die Forscher.

(Quelle: SDA)

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