Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Minarette und Islam: Eine Frage der Normen?

Seit den 1970er-Jahren hat die Anzahl der Menschen muslimischen Glaubens in der Schweiz stark zugenommen. Keystone

Das Schweizer Stimmvolk befindet am 29. November über ein Minarett-Verbot. Die Initianten wollen gegen die "schleichende Islamisierung" der Gesellschaft ankämpfen. Ein Augenschein an einer Informationsveranstaltung der Minarett-Gegner.

“Werden Minarette eines Tages zum Gebetsruf benutzt?”, “Werden die Ansprüche der muslimischen Gemeinschaft verstärkt?”, “Ist es möglich, über die Gültigkeit des Korans zu diskutieren?”, “Welche Stellung haben die Frauen im Islam?”

In der Fragestunde einer Veranstaltung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Ende letzter Woche in Freiburg waren die aufgestreckten Hände zahlreich.

Die Partei, die zusammen mit der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) die Anti-Minarett-Initiative lanciert hatte, organisierte den Informationsabend unter dem Thema “Islam: Wo ist die Wahrheit?”

Um diese Frage zu beleuchten, hatte die SVP David Vaucher, Präsident der Schweizerischen Bewegung gegen die Islamisierung (SBGI) und Rechtsprofessor Arnaud Dotézac, Spezialist für islamisches Recht, eingeladen.

Beide Referenten konstatierten: Die Islamisierung der Gesellschaften im Westen ist eine Realität, die man nicht unter den Teppich wischen darf.

Weil dieser Religion die Ausweitung “durch Kapillarkräfte”, wie Dotézac es beschrieb, innewohne, sei die Realität gleichzeitig “religiös, juristisch und politisch”. Diese Ausbreitung riskiere, ein Gefühl der “Aufzehrung” des Rechtsstaats auszulösen, erklärte Vaucher. Eine Frage, die bereits vorsorglich analysiert werden sollte.

Politik soll handeln

Anfragen nach Dispensen vom Turn- oder Schwimmunterricht, das Tragen des Kopftuchs bei der Arbeit, die Weigerung eines Muslims, die Lehrerin seines Kindes zu treffen: Stéphane Peiry, Abgeordneter der SVP im kantonalen Freiburger Parlament, nannte einige konkrete Fälle, in denen die Ansprüche von Muslimen in seinen Augen den demokratischen Prinzipien entgegenliefen.

“Der Islam ist, unter anderem, der Ausdruck einer Norm, die über allen anderen steht. Von daher stellt sich die Frage der Hierarchie von Normen in einem nicht-muslimischen Land”, analysierte Dotézac.

Nun “gibt es tausend einvernehmliche Wege, mit dieser Hierarchie der Normen umzugehen, unter der Bedingung, dass man die Realität versteht und einer Debatte nicht aus dem Weg geht”, erklärte er.

Für ihn soll daher die Ausbreitung des Islams nicht als Problem angesehen werden. Klare juristische Hürden aufzustellen sei hingegen unabdingbar. “Heute überlassen wir diese Arbeit den Richtern. Man müsste mit der Frage nach der juristischen Definition einer Religion anfangen”, betonte er und gab damit einen Steilpass Richtung Politik.

Zu dieser Frage äusserte sich Vaucher eher pessimistisch: “Von Seiten des Westens sorgen schlechte Information und die politische Korrektheit dafür, dass niemand die Frage wirklich anpackt. Von Seiten der Muslime ist festzustellen, dass der Islam immer die grössten Fanatiker benennt, um mit dem Staat zu verhandeln.”

Keine Erinnerung an den Islam

Und der SBGI-Präsident nannte Beispiele aus der Türkei und Grossbritannien: “Das Ziel ist es nicht, Angst zu machen, aber den Leuten klar zu machen, wie der Islam funktioniert. Gewisse Personen könnten noch viel mehr Angst kriegen, wenn man die Dinge dahin laufen lässt, wo sie hin wollen. Man sieht das sehr gut in England, wo der bewaffnete Jihad eines Tages auftauchte, unterdessen Wurzeln geschlagen hat und wichtig geworden ist.”

Er wisse aber, dass die Muslime in der Schweiz fast ausschliesslich aus dem Balkan stammten, was andere Herausforderungen mit sich bringe, betonte Vaucher. Trotzdem bestehe in der Schweiz – wie anderswo – das Risiko, in ein “auf die Scharia bezogenes und daher totalitäres System” zu fallen.

Zu diesem Punkt bemerkte Dotézac, dass es Europa an der – wie er es nennt – “Erinnerung an den Islam” fehle. “Vor 20 Jahren habe ich mit einem indischen Freund in Neu Delhi drei verschleierte Frauen mit ihren Kinderwägen gesehen. Er sagte zu mir: ‘Schau, der Jihad beginnt wieder’, aber in Form einer Feststellung, ohne jede Angst. Indien kennt den Jihad seit 1200 Jahren, es hat eine Erinnerung daran, was der Islam in seiner Vollständigkeit ist.”

Politisches und religiöses Symbol

Über die Anti-Minarett-Initiative hinaus ging es an diesem Informationsanlass eher um die problematischen Beziehungen zwischen westlichen Demokratien und dem Islam. Doch auch die Frage, die an diesem 29. November im Zentrum steht, wurde aufgegriffen.

Und die Referenten gaben, jeder auf seine Art, den Initianten recht, dass ein Minarett ein politische Symbol des Islams sei. “Das Verbot von Minaretten löst das Grundproblem nicht wirklich”, gab David Vaucher zu bedenken.

“Die SBGI verlangt, dass vorsorglich gegen religiösen Extremismus vorgegangen wird. Und auf symbolischer Ebene erlaubt ein Verbot, dem aggressiven Teil des Islams eine Absage zu erteilen.”

Arnaud Dotézac, der für ein Minarettbau-Moratorium ist, erklärte, das Ziel des Islams sei die Weltherrschaft und das Minarett tatsächlich ein politisches Symbol, “weil im Islam Politik und Religion zusammenhängen”.

Für ihn ist deshalb klar, dass die “Minarette früher oder später dem Gebetsruf dienen werden”. Ein Grund mehr, sich in seinen Augen “der Herausforderung des Islams zu stellen, ohne die Frage der Definition des Islams auszuklammern”.

Carole Wälti, Freiburg, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Abstimmung: Das Stimmvolk äussert sich am 29.11. über eine Initiative für ein Bauverbot von Minaretten.

Verbot: Die Initiative fordert, dass folgender Satz in die Bundesverfassung geschrieben wird: “Der Bau von Minaretten ist verboten.”

Baugesuche: Die Diskussion war lanciert worden, weil in der Schweiz verschiedene Baugesuche eingereiht worden waren. Anwohner hatten sich mit Petitionen dagegen gewehrt.

Islamisierung: Schweizerische Volkspartei (SVP) und Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) haben die Volksinitiative eingereicht, um einer “schleichenden Islamisierung” vorzubeugen.

In der Schweiz leben schätzungsweise zwischen 350’000 und 400’000 Muslime und Musliminnen (zwischen 4,5 und 5,2% der Bevölkerung).

In den letzten 40 Jahren ist ihre Anzahl stark gewachsen: 1970 zählte man 16’353 Musliminnen und Muslime (0,3% der Bevölkerung).

1980 waren es 56’652 (0,9%), 2000 wurden anlässlich der Volkszählung 310’807 Muslime und Musliminnen gezählt (4,3%).

Die muslimische Gemeinschaft in der Schweiz ist nicht homogen: in den 1970er-Jahren war die Mehrheit türkischer Herkunft, 2000 stammten die meisten aus Ex-Jugoslawien. Insgesamt sind rund 100 Nationen vertreten.

In der Schweiz gibt es heute rund 130 islamische Zentren.

Vier Moscheen verfügen über ein Minarett: Genf, Zürich, Wangen und Winterthur. Für ein fünftes wurde in Langenthal (Kanton Bern) die Baubewilligung erteilt.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft