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“Die Muslime arbeiten am sozialen und religiösen Frieden”

"Die Botschaft Angela Merkels nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, wonach der Islam Teil von Deutschland sei, hatte ein positives Echo in der muslimischen Gemeinschaft": Montassar BenMrad. Severin Nowacki

Am Tag nach den Anschlägen von Paris appellierte die Föderation Islamischer Dachorganisationen der Schweiz an den sozialen und den religiösen Frieden. Im swissinfo.ch-Interview verurteilt deren Präsident Montassar BenMrad die Anschläge und plädiert dafür, den Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und mit anderen Religionen zu intensivieren.

Der Tunesier Montassar BenMrad ist seit kurzem Präsident der grössten muslimischen OrganisationExterner Link der Schweiz. Er ist zudem Vizepräsident des Rates der ReligionenExterner Link, einer Plattform von Christen, Juden und Muslimen.

swissinfo.ch: Vergangene Woche hielt der Rat der Religionen eine ausserordentliche Session ab. Da ging es sicher auch um die Attentate von Paris.

Montassar BenMrad: Wir verurteilen diese feigen und mörderischen Handlungen entschieden und entbieten den Familien der Opfer unser Beileid. Der Rat der Religionen ist gegen den Terror im Namen Gottes oder im Namen der Religion und fordert ein friedliches Zusammenleben zwischen den verschiedenen Traditionen und Religionen in der Schweiz und anderen Ländern.

In einer Gesellschaft wie der unsrigen muss jeder seine religiöse Tradition ausleben können, und das ohne Angst und Gewalt. Selbstverständlich gilt die Verurteilung auch für die Verbrechen, die in Ankara, Beirut oder anderswo passiert sind.

swissinfo.ch: Was sagen Sie den Muslimen, die sich für diese Attentate schämen?

“Wieso gehen die Wellen der Verurteilung in den Medien so hoch, wenn ein Attentat in Paris stattfindet, und warum schweigen wir, wenn in Syrien durchschnittlich jeden Tag hundert Menschen sterben?”

M.B.: Die muslimische Gemeinschaft verabscheut die kriminellen Akte und sieht in ihnen einen Gegensatz zu den religiösen Bezügen des Islam. In der Vergangenheit haben wir mehrere solche Erklärungen abgegeben, und ein Teil der Schweizer Gemeinschaft fragt sich, wieso sie sich wiederholt rechtfertigen muss, als ob es ein Vertrauensdefizit ihnen gegenüber gäbe. Es ist, wie wenn Sie sich systematisch für Handlungen, die sie nicht verantworten, rechtfertigen müssten.

Das zweite Argument, das ich manchmal höre, bezieht sich auf die unterschiedlich starken Reaktionen und Verurteilungen. Wieso gehen die Wellen der Verurteilung in den Medien so hoch, wenn ein Attentat in Paris stattfindet, und warum schweigen wir, wenn in Syrien durchschnittlich jeden Tag hundert Menschen sterben?

Wir haben starke Überzeugungen und deshalb die fast 250 Vereine angehalten, die kriminellen Taten von Paris scharf zu verurteilen.

Über die Verurteilung hinaus müssen wir uns der Zukunft zuwenden. Die muslimische Gemeinschaft ist Teil der Schweizer Gesellschaft, und sie will weiterhin den sozialen und religiösen Frieden stärken. Nach solchen Ereignissen besteht immer die Gefahr, dass sie politische Auswirkungen haben, die Angst verstärken, das Zusammenleben schwächen und diskriminierende Folgen haben.

swissinfo.ch: Politiker und Intellektuelle in der Schweiz fordern die muslimischen Gemeinden auf, sich ganz klar von den Fundamentalisten zu distanzieren und nicht lediglich die Attentate zu verurteilen. Wie reagieren sie darauf?

M.B.: Es gibt einen wichtigen semantischen Unterschied zwischen dem Ausdruck “Fundamentalist” und dem Ausdruck “Terrorist”. Doch in solchen Situationen kommt es immer wieder zu Vermischungen. Wenn es darum geht, mit den Terroristen zu brechen, dann ist die Antwort klar. Die muslimische Gemeinschaft in der Schweiz will mit solchen Personen und Gruppen nichts zu tun haben. Das ist eine Bürgerpflicht und hat nichts mit der Frage zu tun, ob jemand Muslim ist oder nicht.

Wenn man von Fundamentalismus spricht, dann stelle ich oft fest, dass der Begriff subjektiv eingeschätzt wird. Es gibt Leute, für die ist jemand, der fünf Mal am Tag betet oder ein Foulard trägt, ein Fundamentalist. Das ist offensichtlich übertrieben. Wir müssten in diesem Fall klare Definitionen und Kriterien haben, die allgemein akzeptiert werden.

In den vergangenen 20 Jahren gab es innerhalb der christlichen Tradition in der Schweiz grosse Anstrengungen, um mit fundamentalistischen Gruppen einen Dialog zu führen, sich einander anzunähern und in Frieden miteinander zu leben, anstatt sich gegenseitig zu zerfleischen.

Die muslimische Gemeinschaft muss wahrscheinlich die Reflexion und den Dialog mit den eher strengen Gruppierungen suchen. Den Dialog abzubrechen würde die Gefahr einer Radikalisierung erhöhen.

“Es gibt einen wichtigen semantischen Unterschied zwischen dem Ausdruck ‘Fundamentalist’ und dem Ausdruck ‘Terrorist'”.

swissinfo.ch: Welche Rolle können nach den Ereignissen von Paris die verschiedenen sozialen Akteure in der Schweiz spielen, um den sozialen Frieden zu verstärken?

M.B.: Die muslimische Gemeinschaft muss sich auch weiterhin entwickeln und das weiterführen, was sie schon vor Jahrzehnten begonnen hat. Sie muss also ihre Aktivitäten in Vereinen ausbauen, um die Jugendlichen zu unterweisen, die Erwachsenenbildung zu fördern, und sie muss den interreligiösen Dialog und den Dialog mit den verschiedenen Interessengruppen auf Kantons- und Bundesebene weiterführen.

Fragen bezüglich der Sicherheit müssen auf vorbeugende Weise behandelt werden, so wie das bereits heute von verschiedenen kantonalen Verbänden gemacht wird. Wahrscheinlich ist es notwendig, bestimmte Projekte zu initiieren, um die Präventionsmechanismen zu stärken. Es braucht zudem einen klaren Rahmen für die Massnahmen zu diesem Problem.

Die Botschaft der Politik und die Rolle der Medien sind in dieser Art von Krise zentral. Die Botschaft Angela Merkels nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, wonach der Islam Teil von Deutschland sei, hatte ein positives Echo in der muslimischen Gemeinschaft. Das ermöglichte es umgehend, Spannungen abzubauen und zu verhindern, das politische Splittergruppen wie Pegida die Situation ausnützten. Es half auch, Vermischungen und Diskriminierungen zu verhindern.

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