Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Nestlé: Lohnkonflikt im Ural, Protest in Vevey

Proteste gegen Nestlé in Perm während der 1.-Mai-Demonstration. swissinfo.ch

Nicht nur Unternehmen agieren global, sondern auch Gewerkschaften. Da der Nestlé in seinem Werk im russischen Ural nicht auf Arbeiterrechte eingehe, so die Gewerkschaft, informierten russische Belegschafts-Vertreter in der Schweiz, dem Sitz von Nestlé.

Nestlé mit Sitz in Vevey ist der grösste Lebensmittelhersteller weltweit. In Russland unterhält der Konzern 14 Werke mit über 9000 Angestellten, eine davon in Perm im Ural, 1400 km von Moskau entfernt.

In dieser Industriestadt produzieren tausend Mitarbeitende in einer 1990 gebauten Fabrik die Nestlé-Produkte Kitkat.

“Gegenüber früher hat sich in unserer Fabrik in Sachen Gesundheit und Sicherheit bei den Standards einiges geändert, und vieles ist besser geworden”, sagt Larisa Selivanova in Bern. Die Präsidentin der Nestlé Kamskaya Perm Arbeitergewerkschaft relativiert jedoch:

“Jetzt aber werden russische Gewerkschaftsrechte beschnitten und faire Lohnverhandlungen verweigert.” Wobei nie klar sei, wo nun eigentlich die unternehmerischen Entscheide fallen: In Perm selbst, in Russland oder am Hauptsitz in Vevey.

Dem widerspricht Nestlé-Sprecher Robin Tickle: “Lohnverhandlungen finden bei Nestlé überall lokal statt”. Ein anderes Verfahren sei bei weltweit 481 Produktionsbetrieben gar nicht möglich.

Tausend Russen und ein Schweizer

Auch das Management der Fabrik in Perm setzt sich laut Selivanova aus Russen zusammen, mit einem Schweizer, dem 35-jährigen Martin Ruepp, als Generaldirektor.

Die Unklarheit, wie Entscheide gefällt werden, und der Umstand, dass Nestlé als Schweizer Unternehmer gilt, haben das Gewerkschaftskomitee bewogen, seine Anliegen ebenfalls in die Schweiz zu tragen.

Dies, nachdem laut Selivanova und Nurislan Kamilov in Pern alle formellen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

“In 13 der 14 Nestlé-Werke haben wir gesamtvertraglich eine Lösung gefunden”, sagt Tickle. “Nur in Perm laufen die Verhandlungen noch. Und auch dort hoffen wir auf eine gute Lösung.” Nestlé sei überzeugt, sich innerhalb der russischen Arbeitsgesetze völlig auf der Linie zu bewegen.

Ermöglicht hat der russischen Delegation diese Reise in die Schweiz die internationale Dachgewerkschaft IUL (Internationale Vereinigung der Lebensmittel-, Landwirtschafts- und HotelarbeitnehmerInnen) zusammen mit der Sektorleitung Industrie der Schweizerischen Gewerkschaft Unia, einem IUL-Mitglied.

Kaufkraftverlust als weiterer Grund für Lohnverhandlungen

Die Permer Belegschaftsvertretung verlangt nach Jahren unveränderten Salärs 40% mehr Lohn und einen 8%-igen Inflationsausgleich. Diese Forderungen sind im Lichte eines durchschnittlichen Jahreslohns (2007) von umgerechnet rund 5500 Franken brutto für durchschnittlich Qualifizierte zu sehen und einer regionalen offiziellen Inflationsrate von 16% – gegenüber nur 11% im Landesdurchschnitt.

Nun habe Nestlé, so Selivanova, Lohnerhöhungen bereits bezahlt. Aber unklar sei, wieviel genau für Wenig- und wieviel für Besserqualifizierte. Diese hätten bereits begonnen, für besser bezahlten Jobs abzuspringen.

Tickle konkretisiert hingegen diese Ziffern: Lohnerhöhungen habe es im Januar und August 2007 sowie im Januar 2008 gegeben. Insgesamt 38%, aber wohl nicht an alle gleichermassen. Der Nestlé-Sprecher weist ausserdem darauf hin, dass die Löhne im Werk über dem regionalen Durchschnitt der Branche lägen.

Arbeiter in Perm fühlen sich diskriminiert

Die kompromisslose Haltung der Werkführung sei deshalb noch unverständlicher, so die Delegation, da es beim Recht auf Lohnverhandlungen um Grundrechte für Arbeitnehmer gehe, die Nestlé in anderen Ländern diskussionslos einhalte. Die Arbeiter im Ural fühlen sich deshalb gegenüber den anderen Nestlé-Belegschaften diskriminiert.

Tickle hält dagegen fest, dass gemäss Nestlé-Unternehmensstandards diese Grundrechte in der gesamten Gruppe gültig seien.

Beispiel Schweiz

In der Schweiz ist die Unia Sozialpartnerin für die fünf Nestlé-Werke. Laut Natalie Imboden hat man bei Unia manchmal ebenfalls das Gefühl gehabt, es sei bei Nestlé nie ganz klar, welche Entscheide nun lokal und welche am Hauptsitz gefällt würden.

Unia verlangt nun vom Nestlé-Hauptsitz, zu den Vorfällen in Russland Stellung zu beziehen und aufzuzeigen, dass internationale Standards, wie sie die OECD und die ILO als Leitsätze aufgestellt hat, auch im Ural eingehalten werden.

Auch Staatssekretariat ist involviert

Die IUL ihrerseits hat auch eine Eingabe an das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gemacht, das für die Einhaltung der OECD-Richtlinien durch Schweizer Unternehmen zuständig sei.

“Auf eigenen Wunsch war die russische Delegation bei uns”, bestätigt Lukas Siegenthaler, der dem Seco-Ressort internationale Investitionen und multinationale Unternehmen vorsteht, gegenüber swissinfo.

Was die OECD-Leitsätze betrifft macht Siegenthaler aber auf zwei Aspekte aufmerksam: “Erstens ist Russland gar kein OECD-Mitglied, und zweitens sind die Leitsätze rechtlich unverbindlich und werden als Empfehlungen erachtet.”

swissinfo, Alexander Künzle

Perm, eine kleine Industriestadt im Ural, liegt ungefähr sechs Eisenbahnstunden von Jekaterinenburg oder 22 Stunden Zugfahrt von Moskau entfernt.

Das Nestlé-Werk in Perm produziert jährlich rund 30’000 Tonnen Süsswaren, Pralinées und Bonbons, hauptsächlich der Marke Kitkat, für den Inlandmarkt und die Ukraine.

Die Belegschaft besteht aus rund 1000 Personen, zu zwei Dritteln Frauen und ebenfalls zu zwei Dritteln gewerkschaftlich Organisierten.

2007 wurden für rund 4 Mio. Euro Investitionen in das Werk getätigt.

Das Management setzt sich aus Russen und einem Schweizer Generaldirektor zusammen.

OECD: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Sitz in Paris.

ILO: International Arbeits-Organisation, Sitz in Genf.

Die Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-, Hotel-, Restaurant-, Café- und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaft ist ein internationaler Gewerkschaftsbund.

Ihm gehören 370 Gewerkschaften aus 120 Ländern mit mehr als 2,8 Mio. Mitgliedern an.

Die IUL hat ihren Sitz in Genf.

Nestlé mit Hauptsitz in Vevey ist der weltweit grösste Lebensmittelhersteller.

Der Grösse nach rangiert er in der Schweiz hinter den Grossbanken.

Da Nestlé weltweit 481 Werke besitzt, gehören Tausende von gewerkschaftlich organisierten Nestlé-Beschäftigten automatisch auch zur IUL-Mitgliedschaft.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft