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Strafvollzug: Busse oder Integration?

Ausbildung als Investition für eine Zukunft in Freiheit. swissinfo.ch

Die Strafanstalt Saxerriet im St. Gallischen Rheintal hat kürzlich ihre Tore geöffnet, um Einblick zu gewähren in den modernen Strafvollzug, in dem das Vollzugspersonal eine wichtige und sehr verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen hat.

Nein, hohe Mauern oder Stacheldrahtzäune gibt es im Saxerriet nicht. Wer hier im offenen Strafvollzug seine Strafe verbüsst, ist im Normalfall nicht fluchtgefährdet – trotzdem setzen sich jedes Jahr mehrere Gefangene ab.

“In meinem Fall besteht keine Fluchtgefahr”, sagt H. J. Er verbüsst eine Strafe von acht Jahren wegen bewaffnetem Raubüberfall in fünf Fällen. Wenn man Schweizer sei und ein Beziehungsnetz habe, mache eine Flucht keinen Sinn.

“Man darf die Justiz nicht unterschätzen. Die finden einen, es sei denn man sei Ausländer mit klaren Fluchtplänen, Papieren und Geld. Aber der Schweizer und der Mittellose kommen nicht weit.”

Seine kriminelle Karriere begann H. J. mit 44 Jahren “und sie hat mit 44 auch wieder aufgehört. Jetzt büsse ich für diese Zeit.”

Einsperren und den Schlüssel fortwerfen?

“Natürlich könnte man alle Straftäter einfach auf Dauer wegsperren und den Schlüssel fortwerfen”, sagt René Frei, Leiter des st. gallischen Straf- und Massnahmenvollzugs. “Das mag zwar am Stammtisch Applaus einbringen, ist bei näherer Betrachtung aber kein taugliches Rezept”, stellt er klar.

Die Straftäter im Saxerriet verbüssen eine zeitlich befristete Strafe und kehren dann zurück in die Freiheit. “Das Strafvollzugspersonal hat den Auftrag, verurteilte Straftäter möglichst gut auf diese Rückkehr vorzubereiten. Der Strafgefangene soll befähigt werden, nach der Entlassung ein straffreies Leben führen zu können”, so Frei.

Die Mitarbeitenden im Strafvollzug müssen “einerseits Aufsichts-, Ordnungs-, Führungs- und Sicherheitsfunktionen wahrnehmen sowie andererseits Begleitungs-, Betreuungs- und Ausbildungsfunktionen”, präzisiert er.

Der Freiheitsentzug stelle für die Gefangenen eine besondere Belastungssituation dar, auf die sie unterschiedlich reagierten. Und so komme es häufig zu Konfliktsituationen, sagt Frei.

Um solche Situationen richtig einzuschätzen und entsprechend handeln zu können, müssen Mitarbeitende des Strafvollzugs über besondere Sozialkompetenzen verfügen wie Beurteilungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Belastbarkeit sowie Verständnis für andere Kulturen und Achtung vor dem Mitmenschen.

Typischer Zweitberuf

Wegen der hohen Anforderungen im sozialen Bereich gibt es keine Lehre für den Beruf eines Strafanstaltsvollzugsbeamten. “Die Tätigkeit in einer Strafvollzugsanstalt steht in der Regel in einer zweiten oder gar dritten Phase einer beruflichen Biografie”, erklärt Saxerrietdirektor Martin Vinzens.

Beispiel für diese Aussage ist seine eigene Berufslaufbahn. Er ist “von Haus aus” Theologe. “Lebenserfahrung” ist ein wichtiges Kriterium, das bei der Auswahl der Mitarbeiter stark gewichtet wird. “Das durchschnittliche Eintrittsalter von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in unserer Institution liegt bei 30 Jahren”, führt er aus.

Was motiviert Berufsleute, in einer Strafanstalt zu arbeiten? Während für die einen eine sichere Anstellung im Vordergrund steht, erklären andere, im sozialen Bereich mit Menschen arbeiten zu wollen. Natürlich werden auch finanzielle Überlegungen für die Arbeit im Vollzug angeführt.

Gewachsene Ansprüche

Rolf Aebi, stellvertretender Abteilungsleiter Strafvollzug im Saxerrriet, sagt, die Arbeit in der Strafanstalt sei in den letzten Jahren zunehmend anspruchsvoller geworden. “Einerseits werden die Betreuer vermehrt mit administrativen Aufgaben belegt, anderseits wird auch der Vollzug detaillierter. Man kann die Insassen nicht einfach aufbewahren und schauen, dass sie nachher eine Arbeit und eine Wohnung haben.”

Aebi erklärt das am Beispiel eines Insassen, der ein Gewaltdelikt begangen hat. “Wir beobachten seine Entwicklungsschritte im Bereich seiner speziellen Gewaltdelikte sehr differenziert.”

Dabei wird der Insasse nicht nur durch die Vollzugsbeamten betreut, “sondern auch mit Therapie, allenfalls auch mit Suchtbehandlung, wenn noch ein Suchtproblem vorliegt.”

Alles sieht schwarz aus…

“Am Anfang waren die Sozialpädagogen für mich sehr wichtig. Man kommt da als Hochkrimineller rein, man weiss, man ist jetzt da, das Leben draussen ist quasi fertig, einfach alles sieht schwarz aus”, erinnert sich H. J.

“Der erste Beistand war eine Art Akutintervention. Ich brauchte Beruhigungsmittel. Der Kokain-Entzug wurde schon in der Untersuchungshaft vorgenommen.”

H. J. erklärt, die Anstaltspsychiaterin habe sehr geschickt agiert. ” Sie gab mir nie Anstösse, sie hatte Geduld, wartete einfach, bis ich selbst damit gekommen bin.” Dieses Vorgehen habe ihm wichtige Einsichten erschlossen.

“Ich habe mich allmählich selber erkannt, was da eigentlich in den Opfern passiert. Vorher hatte ich immer gedacht, das ist nicht so schlimm gewesen, wir haben denen ja nichts angetan. Aber dass jemand unter Umständen ein Trauma davonträgt, hatte ich nicht bedacht.”

Mit der Zeit hat die Betreuung für H. J. an Bedeutung verloren. “Ich habe sämtlichen Versuchungen draussen problemlos widerstanden.”

Hoher Stellenwert der Arbeit

Ein wichtiges Betreuungsmittel ist die Arbeit. Je nachdem, wie lange die Insassen in der Strafanstalt verbringen müssen, können sie eine Ausbildung machen, eine Anlehre, oder eine vollwertige Berufsausbildung.

Die Gewerbebetriebe der Anstalt Saxerriet bieten Ausbildungsplätze an für Gärtner, Koch, Landmaschinenmechaniker, Metzger, Drucktechnologe, Mechapraktiker und Polymechaniker.

Zudem sieht die Anstaltsleitung in der regelmässigen Arbeit aller Insassen in den Gewerbe- und Gutsbetrieben ein “wirkungsvolles Übungsfeld für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft”.

H. J. hofft, dass ihm nach seiner Entlassung ein Arbeitgeber eine Chance gibt. “Ich glaube, mit meinem Aufenthalt hier habe ich meine Strafe, die auch von der Gesellschaft verlangt wurde, abgesessen. Und wenn ich eine zweite Chance erhalte, werde ich sie nicht missbrauchen.”

Etienne Strebel in Saxerriet, swissinfo.ch

Insassenbestand per 30. 6.6 09: 92 Mann
Durchschnittsalter 39,35 Jahre
Durchschnittsaufenthaltsdauer: 15,43 Monate
Durchschnittsverurteilung: 36,5 Monate
Arbeitsexterenat: 1 Mann
Halbgefangenschaft: 3 Mann
Kurzbestrafte (Aufenthalt Saxerriet bis 16 Monate): 16 Mann
In der Strafanstalt Saxerriet stehen insgesamt 52 Arbeitsplätze im Anstaltsbetrieb, in den Gewerbebetrieben sowie in den Gutsbetrieben zur Verfügung.

Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts ist gemäss Artikel 123 der Bundeverfassung Sache des Bundes.

Der Strafvollzug fällt in den Aufgabenbereich der Kantone.

Seit 1942 verfügt die Schweiz über ein einheitliches Strafrecht, das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB).
Nach über zwanzig Jahren Verfahren wurde die Revision des StGB 2002 angenommen. Das neue StGB trat am 1. Januar 2007 in Kraft.

2007 beherbergten die Anstalten in der Schweiz gemäss Strafvollzugsstatistik 5715 Gefangene. Davon waren 40 % nicht verurteilt (1’653 Personen in Untersuchungshaft, 403 in Ausschaffungs- oder Auslieferungshaft). 5,5 % davon waren Frauen.

Bei Verbrechen oder Vergehen sieht das Schweizerische Strafgesetzbuch drei Arten von Strafen vor: Freiheitsstrafe, Geldstrafe und gemeinnützige Arbeit.

Mindestdauer einer Freiheitsstrafe: 6 Monate
Höchstdauer: 20 Jahre oder lebenslänglich.

115 Anstalten vollziehen in der Schweiz Strafen und strafrechtliche Massnahmen.

Für den Vollzug längerer Strafen und Massnahmen stehen rund 30 mittlere bis grössere Einrichtungen zur Verfügung. Die meisten Anstalten haben weniger als 100 Plätze; nur vier Anstalten haben über 200 Plätze.

In eine geschlossene Anstalt oder in eine geschlossene Abteilung einer offenen Anstalt wird eingewiesen, wenn die Gefahr besteht, dass der Verurteilte flieht, oder zu befürchten ist, dass er weitere Straftaten begeht.

In eine offene Einrichtung wird eingewiesen, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Verurteilte flieht oder weitere Straftaten begeht.

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