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“Ein Hilfswerk muss die Ursachen von Armut benennen”

Landlose Arbeiter in Indien erhalten vom Hilfswerk Unterstützung zum Erwerb eines eigenen Stücks Land.

Die Wahl eines Nestlé-Managers in den Stiftungsrat des HEKS hat heftige Kritik ausgelöst. Nun weitet sich die Diskussion zu einer Grundsatzdebatte über das politische Engagement von Hilfswerken aus. Kirchenleute sammeln Unterschriften "für ein politisch engagiertes und prophetisches HEKS".

Nestlé-Schweiz-Chef Roland Decorvet ist in den Augen des Petitions-Komitees nicht Ursache, sondern Symptom eines Problems: Die Wahl sei Ausdruck eines schleichenden Kurswechsels beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS), sagte Pfarrer Jürg Liechti-Möri an einer Medienkonferenz in Bern.

“Das einst theologisch und politisch profilierte Hilfswerk entwickelt sich schrittweise zu einem profillosen, einzig auf Wachstum fixierten Werk”.

Mit der Petition, die sich an den Rat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) und den HEKS-Stiftungsrat richtet, wollen die Kirchenleute eine Debatte über die künftige Ausrichtung des Hilfswerks auslösen.

Die Hauptforderungen: Das HEKS soll die strukturellen Ursachen von Armut und Ungerechtigkeit benennen. Es soll nicht nur Spenden sammeln, sondern auch zu sozialpolitischen und wirtschaftlichen Fragen öffentlich Stellung nehmen. Und bei Wahlen in den Stiftungsrat sollen Unvereinbarkeiten von Werten und Interessen streng berücksichtigt werden.

“Pflästerli”-Politik in Kolumbien

Dass das HEKS politische und ökonomische Zusammenhänge zunehmend ausblendet, zeigt sich nach Auffassung der Kritikerinnen und Kritiker nicht nur an den Leitsätzen des Hilfswerks, sondern auch an seiner Arbeit. Als Beispiel nennen sie den letzten Spendenaufruf des HEKS. Der Brief habe festgehalten, dass der Anbau von Monokulturen in Kolumbien immer wieder zu gewaltsamen Vertreibungen der Einheimischen führe.

Verschwiegen habe das HEKS, wer davon profitiere: Rund 30 multinationale Unternehmen, darunter auch Schweizer Firmen.

Das HEKS unterstützt im Konfliktgebiet in Kolumbien ein Internat, damit den Kindern gefährliche Fussmärsche erspart blieben. Dies sei – im Sinne von Soforthilfe – nicht falsch, sagte Ursula Dubois, Spezialistin für Corporate Social Responsibility bei der OeMe-Kommission der Stadt Bern.

Doch nachhaltige Entwicklung erfordere Strukturveränderungen, und dafür müsse sich ein Hilfswerk einsetzen. Alles andere sei “Pflästerli”-Politik.

Als weiteres Beispiel nannte Dubois die Abfüll-Fabriken von Coca Cola in Indien, die ganzen Landstrichen das Grundwasser entzögen. Wenn das HEKS die Ursachen des Wassermangels nicht bekämpfe, werde das landwirtschaftliche Bewässerungssystem, welches das Hilfswerk seit Jahren unterstütze, bald nutzlos sein.

“Die Qualität einer Hilfswerksstrategie misst sich an der Art, wie sie den globalen ökonomischen Bedingungen gerecht wird und diese in ihr Handeln einbezieht”, hielt Dubois fest.

Analyse zum “Fall Decorvet”

Mit Roland Decorvet im Stiftungsrat dürfte sich nach Ansicht der Kritikerinnen und Kritiker die Tendenz zur Entpolitisierung des HEKS noch verstärken. Eine Gruppe um Theologieprofessor Pierre Bühler hat das Konfliktpotenzial analysiert und eine Studie mit dem Titel “Ethische Aspekte einer umstrittenen Wahl” vorgelegt, die auch als Hilfsmittel für Entscheide in anderen Institutionen dienen soll.

Auf Basis von theoretischen Überlegungen gelangen die Autoren zum Schluss, dass die Abgeordneten des SEK mit der Wahl eine “voreilige Entscheidung” getroffen haben. Auch wenn Decorvet von einem Engagement als Privatperson spreche, werde er sich fortwährend Loyalitätskonflikten ausgesetzt sehen, was für die Arbeit des Hilfswerks hinderlich sei.

Die Unterschriftensammlung für die Petition dauert bis Ende Mai. Zu den Erstunterzeichnenden gehören neben Theologinnen und Pfarrern die Genfer Ständerätin Liliane Maury Pasquier und die Baselbieter Nationalrätin Maya Graf. Im Juni sollen die Unterschriften übergeben werden. Roland Decorvet muss im laufenden Jahr von den Abgeordneten des SEK als Stiftungsrat bestätigt werden.

“Ein Zusammenschluss von Privatpersonen”

Das HEKS schreibt in einer Stellungnahme, es begrüsse – in vorläufiger Unkenntnis der Details – die Stossrichtung der Petition. “Das HEKS war, ist und bleibt ein prophetisches und politisch engagiertes Hilfswerk”, hält es fest.

Beim Petitions-Komitee handle es sich offenbar um einen “Zusammenschluss von Privatpersonen”. Es sei bedauerlich, dass diese nicht das direkte Gespräch gesucht hätten. Im übrigen verweist das HEKS auf das erfolgreiche Spendenjahr 2008.

In der Stellungnahme des HEKS hält Stiftungsratspräsident Claude Ruey fest, dass die Anliegen des Komitees, bereits seit Jahren zu den Kernkompetenzen des Hilfswerks gehörten: “Der Menschenrechtsansatz, die profilierte anwaltschaftliche Ausrichtung und die Nähe und Partnerschaft mit den Kirchen sind in der neuen Strategie von HEKS klar festgehalten”. Daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern.

swissinfo und Charlotte Walser, InfoSüd

Eine zunehmende Entpolitisierung wird nicht nur beim HEKS, sondern auch bei anderen Hilfswerken beobachtet. Es handle sich um einen allgemeinen Trend, sagt Beat Dietschy, Zentralsekretär der evangelischen Entwicklungsorganisation “Brot für alle”.

Der Spendenmarkt sei umkämpft, der Wettbewerb habe sich in den vergangenen Jahren verschärft. “Dies führt Hilfswerke in die Versuchung, eine Strategie zu verfolgen, die niemanden verärgert.”

Dietschy unterscheidet indes zwischen verschiedenen Formen des politischen Engagements. Die schwächere Form bestehe darin, die politische Dimension des eigenen Tuns im Blick zu haben und sich nicht vor politischen Stellungnahmen zu scheuen.

Die stärkere Form beinhalte die Durchführung entwicklungspolitischer Kampagnen, etwa zum Klimawandel oder für ein Waffenausfuhrverbot – Kampagnen, wie sie “Brot für alle” lanciert. Für Dietschy gehört die schwächere Form des Engagements zur Arbeit jedes Hilfswerks.

Die stärkere Form dagegen, die mit aufwändigen Hintergrundarbeiten verbunden sei, könne nicht jedes Hilfswerk wahrnehmen. “Hier ist eine gewisse Arbeitsteilung sinnvoll”, sagt Dietschy.

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