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“Klar ist, dass nichts klar ist”

Ursprüngliche Landschaften - alle wünschen sie, doch nicht alle gleich ursprünglich. Im Bild: Glacier Express in Richtung Oberalp Pass. swiss-image

Beim Zweitwohnungs-"Dilemma" gibt es zwei Arten von Gesetzen: Juristische zur Umsetzung der Initiative, und wirtschaftliche Gesetze im Verhalten der Besitzer, Gäste und Touristiker. Letztere dürfen laut Christian Laesser nicht vernachlässigt werden.

Während des Abstimmungskampfs um die Zweitwohnungs-Initiative von Franz Weber stritt man über Landschaftsschutz und Zubetonierung, seit der Annahme der Initiative über Übergangsbestimmungen und Leitlinien.

Kaum Thema waren und sind dagegen die bestehenden Erfahrungswerte respektive das wirtschaftliche und menschliche Verhalten im Tourismus, wie sie der St. Galler Ökonom Christian Laesser gegenüber swissinfo.ch ins Spiel bringt.

Der Professor für Tourismus- und Diensteistungsmanagement an der Uni St. Gallen nennt beispielsweise den Zwang, nur zu den eher kurzen Hauptsaison-Zeiten wirklich im grossen Stil Tourismus betreiben zu können. Ebenfalls spricht er von der unterschiedlichen Auffassung von ausländischen Touristen und inländischen Stimmbürgern über den Landschaftsschutz. 

Eine weitere solche ökonomische Regel besage, dass Ferienwohnungs-Besitzern die Lust am Vermieten umso mehr vergehe, je näher ihr Wohnsitz bei der Zweitwohnung liege. 

Diese Sachverhalte dürfen gemäss Laesser bei der Umsetzung der Initiative keinesfalls vernachlässigt werden. Andernfalls riskiere das Anliegen, ähnlich wie die Alpeninitiative, zwischen Sachzwängen und Wirklichkeit aufgerieben zu werden.

Er betont deshalb über das Juristische hinaus die Gesetzmässigkeiten im Verhalten von (Ferien-)Wohnungsbesitzern, Gästen und Touristikern. Und solange auch eine konkrete Definition der Ferienwohnung fehle, sei nur klar, das nichts klar sei.

Relativierter Wert eines Vermietzwangs

Die Kernfrage, die sich die Verantwortlichen in jedem Ferienort vor allen anderen Fragen stellen müssten, lautet gemäss Laesser: “Wie viel Gästekapazitäten wollen sie in ihrem Ferienort für die Hauptsaison zur Verfügung stellen? Egal, ob in Form von Hotelzimmern und/oder (Zweit-)Wohnungen.”

Dabei betont er, dass es einzig und allein um die Spitzenzeiten gehe, denn in der Nebensaison sei die Nachfrage naturgemäss deutlich tiefer als in der Hauptsaison.

Dieser einschneidende Sachverhalt werde gerade von Juristen zu wenig beachtet. “In St. Moritz könnten deshalb in der Nebensaison auch 100’000 Wohnungen leer stehen – zu Spitzenzeiten liessen sie sich füllen!”, ist Laesser überzeugt.

Solche kalten Betten, so höre man oft, sollten durch einen Vermietzwang wärmer werden. Juristisch sei das sicher machbar, so der Experte, was eine Lösung des Problems suggeriere. De facto jedoch sei ein Vermietzwang, insbesondere über die Grossmehrheit des Jahres, wenig sinnvoll, denn ausserhalb der Hauptsaison gebe es nur eine beschränkte Nachfrage.

Deshalb spielt es laut Laesser keine Rolle, ob der Eigentümer seine Wohnung nicht nutze oder ob sie leer stehe. Ein rigides Vermietungssystem würde höchstens den Preis dieser Wohnungen beeinträchtigen, insbesondere, wenn nur Schweizer solche besitzen können.

“Lex Weber” kontra Lex Koller?

Der Experte weist auf den Unterschied zwischen der Schweiz und den Mittelmeer-Ländern hin, wenn es um die Anreize geht, Ferienwohnungen zu vermieten. “Am Mittelmeer ist man froh, wenn der Ferienwohnungs-Besitzer Ausländer ist und weit entfernt lebt. In der Schweiz hingegen verbietet die Lex Koller oft den Wohnungskauf durch Ausländer.”

Diese politisch motivierte Absicht habe unbeabsichtigte Folgen auf die Möglichkeit zur Vermietung, besage eine Verhaltensregel: “Je näher ein Besitzer bei seiner Ferienwohnung lebt, desto eher lässt er sie unvermietet respektive leer. Denn ihm ist die Möglichkeit der ständigen Verfügbarkeit mehr wert als der wirtschaftliche Ertrag aus der Vermietung”, so Laesser. 

Am Mittelmehr aber verlaufe der Anreiz umgekehrt: Da es weniger Befürchtungen um einen “Ausverkauf der Heimat” gebe und alternative Modelle wie etwa Time Sharing existierten, seien dort Ferienwohnungen oft im Besitz von entfernt lebenden Ausländern, insbesondere aus dem EU-Raum. Daher sei die Distanz oft zu gross, um am Wochenende spontan ans Meer zu reisen, und dementsprechend würde auch vermehrt vermietet.

Was heisst unberührt und intakt?

Auch die beiden Anliegen Landschaft und Zersiedelung, über die während des Abstimmungskampfs oft gestritten wurde, relativiert Laesser aus seiner ökonomischen Sicht:

“Spaniens Südküste wird seit Jahrzehnten zubetoniert und ist immer noch relativ attraktiv, insbesondere für die Massen von Warmwetter-Urlaubern. Dort ist nicht die Zersiedelung das Problem, sondern der Umstand, dass die Briten als Gäste wegen dem Pfund wegbleiben – wie bei uns übrigens auch.”

Der Grad der Beeinträchtigung der Landschaft sei immer nur in Relation mit dem Kundensegment zu sehen, das man anziehen wolle, argumentiert er. In unseren Bergregionen komme dies jedoch einer Gratwanderung gleich.

In landschaftlich schöne Regionen ziehe es vor allem urbane Touristen. In den Umfragen, wie sie “Schweiz Tourismus” seit Jahren durchführe, wollten zwar alle unberührte Landschaften. “Doch diese Städter könnten in der puren Natur gar nicht mehr überleben”, sagt Laesser dazu lakonisch.

Deshalb müsse die unberührte Landschaft als Wunsch Nr. 1 der Übersee-Gäste relativiert werden: “Schauen Sie sich doch eine asiatische Megalopolis an. Unsere Gäste aus China kommen ja nicht von den Reisfeldern auf dem Land, sondern sie sind kaufkräftige Städter. Diese messen den Grad der Unverbautheit der Schweizer Berglandschaft beispielsweise an den Zuständen im übervölkerten Delta des Gelben Flusses, wo Dutzende von Millionen Menschen leben.”

Christian Laesser ist Professor für Tourismus und Dienstleistungs-Management an der Uni St. Gallen.

Er ist Direktor des Forschungszentrums für Tourismus und Verkehr

Besonders befasst er sich mit dem Verhaltenen in der Serviceindustrie, Tourismus und Verkehr.

Laesser ist Mitglied der Mitte März eingesetzten Arbeitsgruppe, die klären soll, was unter einer Zweitwohnung zu verstehen ist.

Sie hat den Auftrag, bis im Sommer eine, wenn auch provisorische Definition zu liefern.

Die Eidg. Volksinitiative “Schluss mit dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen” ist im Dezember 2007 eingereicht worden.

Im Oktober 2008 erschien die Botschaft des Bundesrats. Er empfahl, sie ohne Gegenentwurf zur Abstimmung vorzulegen und abzulehnen, und verwies auf Raumplanungsgesetze in den einzelnen Kantonen.

Recht überraschend, und hauchdünn, ist sie am 11. März 2012 mit 50,6% der Stimmen beim Volk und mit einem Ständemehr (12 Kantone) angenommen worden.

Die Initiative verlangt, dass der Anteil Zweitwohnungen pro Gemeinde maximal 20% betragen darf.

Bemessungs-Grundlagen sind der “Gesamtbestand der Wohneinheiten und die für Wohnzwecke genutzte Bruttogeschossfläche”.

Noch muss das Parlament den Begriff “Zweitwohnungen” im Gesetz genau definieren. Es geht um Nebenwohnsitze, die meist leer stehen.

Zur Zeit streiten sich die Kantone, Staatsrechtler und das Verkehrs- und Umweltdepartement von Doris Leuthard um die Auslegung der Übergangs-Bestimmungen.

Bis Ende 2012 eingereichte Baugesuche sollen laut Kantonen noch nach altem Recht beurteilt werden.

Doris Leuthard jedoch findet, dass der neue Verfassungs-Artikel ab sofort gelte. Die Lage im laufenden Jahr 2012 sei nicht klar, besonders in Gemeinden, bei denen 2012 damit die 20%-Schwelle bereits erreicht würde.

Die Gebirgskantone fordern vom Bund, seine Leitlinien zum Umgang mit Zweitwohnungen zurückzunehmen.

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