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“Scharons totale Konfrontation”

Tausende Palästinenser schwörten bei der Beerdigung von Scheich Jassin blutige Rache. Keystone

Die Tötung des palästinensischen Hamas-Führers Jassin durch Israel beherrscht die Schlagzeilen der Schweizer Tageszeitungen.

Viele befürchten, dass eine neue Gewaltwelle aus dem Nahen Osten auf den Rest der Welt überschwappt.

“Notre Opération de Liquidation a fait 8 morts, 15 blessés et 2000 Kamikazes.” Unsere Operation hat 8 Todesopfer, 15 Verletzte und 2000 Selbstmordattentäter produziert,lässt Karikaturist Chappatte im Genfer LE TEMPS einen Offizier dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon Bericht erstatten.

Die NEUE LUZERNER ZEITUNG schreibt: “Welche Heldentat! Die israelische Regierung unter Ariel Scharon bietet ihre High-Tech-Armee auf, um einen alten, gelähmten Mann aus der Luft abknallen zu lassen und ein paar weitere Menschen – ‘Begleitschäden’ – gleich noch dazu”.

Ins selbe Horn stösst auch der TAGES ANZEIGER: “Lasergesteuerte Raketen gegen einen Mann im Rollstuhl, der eben vom Morgengebet in der Moschee kommt – mehr Zutaten braucht es nicht, um aus einem normalen Menschen einen Helden zu machen.”

Scheich Ahmet Jassin, der schon zu Lebzeiten fast wie ein Heiliger verehrt wurde, werde durch diesen Tod zu einem Märtyrer ersten Ranges, meint der TAGI weiter.

Gewalt schafft Gegengewalt

Die BLICK-Schlagzeile: “Hass im Heiligen Land. Oh, Israel, was hast du getan!” Das Boulevardblatt fragt, ob jetzt der Nahe Osten endgültig brenne und: “Müssen wir uns sogar darauf gefasst machen, dass die Palästinenser ihren Terror wie al-Kaida in die ganze Welt hinaustragen?”

Dass Gewalt immer neue Gewalt schafft, scheine Scharon nicht zu berühren. Wie ein Schachspieler vor seinem Brett liquidiere er die wichtigsten Figuren, analysiert die BERNER ZEITUNG.

“Aber im Unterschied zum Schachspiel wirken die Symbolfiguren im wirklichen Leben nach ihrem Tod weiter, oft sogar noch stärker.”

Auch für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG wird Jassins Liquidierung den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht lösen helfen. Das Opfer verdiene jedoch auch kein besonderes Mitleid.

“Jassin war der ideologische Kopf einer blutrünstigen Terror-Organisation, die nach eigenem Bekenntnis keinen Kompromiss-Frieden mit Israel will, sondern zumindest die Beseitigung dieses Staates als Fernziel deklariert.”

Gewaltbereitschaft nimmt zu

Über “Scharons totale Konfrontation” macht sich DER BUND Gedanken: “So genannt gezielte Liquidierungen von Hamas-Verantwortlichen durch die israelische Armee haben sich bisher immer kontraproduktiv ausgewirkt: Die Bereitschaft zur Gewalt auf palästinensischer Seite nimmt zu – und nicht ab.”

Deshalb bezeichnet der BUND eine solche Strategie als längst gescheitert. Dem pflichtet auch die BASLER ZEITUNG bei. Für sie ist “Jassins Ermordung eine Untat, die schlimme Folgen haben könnte – gerade auch für die israelische Seite”.

Verhängnisvoll sei, dass durch das Anheizen des Konflikts die israelische Bevölkerung zusätzlich gefährdet sei: “Die Frage ist, wie viele von uns Jassin ins Grab folgen werden”, zitiert die BAZ einen Israeli.

“Wenn Scharon behauptet, die Hinrichtung des Scheichs sei ein Beitrag zur Terror-Bekämpfung, ist er entweder politisch kurzsichtig oder ein Zyniker”, schliesst die BAZ ihren Kommentar.

Arafat als Nächster?

So sieht es auch das SANKT GALLER TAGBLATT. Es sei nichts gewonnen, nur provoziert. “Die Ermordung Jassins droht zum Fanal neuer Schrecken zu werden – weit über den Nahen Osten hinaus”, befürchtet das Blatt weiter. Denn nun würden sich Jihadisten mit ihren Racheaufrufen an Moslems in der ganzen Welt wenden.

Der TAGES ANZEIGER sorgt sich, “dass mit dem Überschreiten einer neuen roten Linie die gemässigten Palästinenser in die Ecke gedrängt würden”. Es könne Scharon nur recht sein, wenn damit die Chancen für Verhandlungen weiter verringert würden.

Denn als letzter grosser Gegner verbleibe Palästinenserpräsident Jassir Arafat: “Es würde nicht erstaunen, wenn Sharon Jassins Liquidierung als Hauptprobe für diesen letzten Akt angelegt hätte. Bleibt das Aufbäumen kontrollierbar, dürften auch Arafats Tage gezählt sein.”

swissinfo, Etienne Strebel

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