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“Unsere Fusion kommt von der Basis”

Renzo Ambrosetti, Co-Präsident der neuen Gewerkschaft UNIA. swissinfo.ch

Mit UNIA entsteht die grösste Gewerkschaft der Schweiz. Sie geht aus der Fusion von vier Einzelgewerkschaften hervor.

Renzo Ambrosetti wird zusammen mit Vasco Pedrina die neue Gewerkschaft präsidieren. swissinfo hat ihm auf den Zahn gefühlt.

Der 51-jährige Renzo Ambrosetti ist seit 1978 Gewerkschafter und war bisher Präsident des SMUV. Wie Vasco Pedrina stammt er aus Bodio im Tessin.

swissinfo: Sie stehen nun an der Spitze einer Gewerkschaft, die mehr als 200’000 Mitglieder und über 900 Angestellte zählt. Fühlen Sie sich in dieser Position wohl?

Renzo Ambrosetti: Es ist ein Moment grosser Freude. Aber ich fühle natürlich auch eine enorme Verantwortung auf meinen Schultern lasten. Die Erwartungen an UNIA von Seiten der Mitglieder und der Bevölkerung sind sehr gross.

Zudem merken wir natürlich, dass die Arbeitgeber die Gründung der neuen Grossgewerkschaft mit gewissem Misstrauen und Sorge verfolgen. Dies zeigt uns aber, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn unsere Sozialpartner diese Entwicklung kalt liesse, hätten wir einen Fehler gemacht.

swissinfo: Was bedeutet die Fusion für die Mitglieder der bisherigen Gewerkschaften?

R.A.: Die Mitglieder werden eine Reihe von Vorteilen haben, denn die neue Gewerkschaft verfolgt ganz klare strategische Ziele. Vor allem wollen wir noch näher an unseren Mitgliedern an ihren jeweiligen Arbeitsorten und den Regionen sein. Zwei grosse und einige kleinere Gewerkschaftsstrukturen zu vereinen, erlaubt uns, grosse Synergien zu schaffen.

Mit 100 Regionalsekretariaten sind wir bis in die letzten Winkel der Schweiz präsent. Die bisher erbrachten Dienstleistungen können wir nicht nur halten, sondern noch ausbauen.

Eine unserer grossen Aufgaben besteht darin, den Gültigkeitsbereich von Gesamtarbeitsverträgen auszuweiten. Einerseits müssen wir die Situation dort konsolidieren und verbessern, wo ein GAV die Anstellungsbedingungen bereits regelt, andererseits müssen wir in bisher vertragslose Branchen vordringen.

swissinfo: Sie reden nur von den strategischen Zielen der Fusion. Gibt es nicht auch handfeste finanzielle Gründe für diesen Schritt?

R.A.: Nein, es gibt in unserem Fall keine finanziellen Motive. In vielen anderen Ländern Europas liegt die Situation anders. Da erfolgten Grossfusionen häufig wegen finanzieller Probleme.

Unsere “Kriegskasse” war hingegen gut gefüllt, und dasselbe gilt auch für die GBI. Wir hätten noch Jahrzehnte separat agieren können. Unsere Fusion verfolgt daher einzig die erwähnten strategischen Ziele.

swissinfo: Ahmt die Gewerkschaft nicht genau ein Effizienz-Steigerungs-Modell nach, das im Falle von Firmenfusionen in der Wirtschaft heftig kritisiert wird?

R.A.: Unsere Fusion ist keine Kopie der Fusionen in der Privatwirtschaft. In unserem Fall haben wir einen demokratischen Prozess durchlaufen, der an der Basis begonnen hat. Es war nicht ein Verwaltungsrat, der hinter verschlossenen Türen über die Köpfe der Mitglieder hinweg so entschieden hat. Vielleicht wäre es besser, nicht von Fusion, sondern von Integration zu sprechen.

swissinfo: Die Gewerkschaft Bau und Industrie gilt als wesentlich kämpferischer, während der SMUV beispielsweise noch dem Arbeitsfrieden verpflichtet ist. Wie können diese Unterschiede unter einen Hut gebracht werden?

R.A.: Es handelt sich hier um Allgemeinplätze, auch wenn es historische Gründe für diese Unterscheide gibt. Auch die GBI hält sich an den Arbeitsfrieden, wenn die jeweilige Situation dies erlaubt. Andererseits hat auch der SMUV unter Beweis gestellt, dass er zum Arbeitskampf mobilisieren kann.

UNIA muss jetzt zeigen, dass sie beide Gewerkschaftskulturen unter einem Dach vereinen kann. UNIA muss die besten Seiten der bisherigen Gewerkschaftsidentitäten aufgreifen und zusammenführen. Ich bin sicher, dass wir es schaffen werden.

In den letzten Jahren haben wir schon viel zusammen gearbeitet und uns gegenseitig unterstützt. Das hat sehr geholfen, bestehende Vorurteile und Ängste abzubauen. Auch die militantesten Gewerkschafter haben eingesehen, dass die Probleme der Basis überall gleich sind.

swissinfo: Sie erwähnten, dass die Gründung von UNIA von den Arbeitgebern mit Skepsis verfolgt wird. Glauben Sie, dass sich die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern verändern werden?

R.A.: Wir müssen abwarten. Ich bin überzeugt, dass die Beziehungen zu intelligenten Arbeitgebern, die von der Nützlichkeit repräsentativer Gewerkschaften überzeugt sind, gut und korrekt bleiben werden. Umgekehrt brauchen wir ja auch einen korrekten Gegenpart.

Natürlich werden wir Probleme mit den Arbeitgebern haben, die neoliberale Ideen vertreten, auf immer weniger Staat pochen und von den sozialen Rechten der Arbeitnehmer nichts mehr wissen wollen. Und es wird Probleme mit der SVP und den Teilen der bürgerlichen Parteien und Arbeitgeberverbänden geben, die uns aus Prinzip bekämpfen.

Ich hoffe, dass auf Arbeitgeberseite die mit etwas Intelligenz ausgestatteten Leute die Oberhand behalten und die Hardliner in der Minderheit bleiben. Wer einen Konfrontationskurs steuert, muss wissen, dass wir diesen aufnehmen und entgegen können. Aber es ist klar: Eine anhaltende Konfliktsituation ist für beide Seiten mittel- und langfristig schädlich.

swissinfo: An der Spitze der neuen Gewerkschaft UNIA steht neben Ihnen noch Vasco Pedrina, der ebenfalls Tessiner und somit Vertreter der italienischsprachigen Minderheit ist. Ist es ein Zufall, dass zwei Tessiner die UNIA präsidieren?

R.A.: In gewissem Sinn ist es schon ein Zufall. Ich bin der erste Tessiner gewesen, der in der 116-jährigen Geschichte des SMUV diese Gewerkschaft präsidiert hat. Beim GBI ist die Situation anders. Die Italienischsprachigen üben einen grösseren Einfluss aus. Pedrina ist schon der zweite Präsident, der aus dem Tessin stammt.

Ich bin überzeugt, dass ich als Tessiner im Sinne einer Integrationsfigur gewählt wurde, weil ich drei Landessprachen spreche und aus einer Sprachminderheit stamme. Pedrina und ich sind es gewohnt, mit der Mehrheit aus der Deutschschweiz zu arbeiten und zwischen den Regionen zu vermitteln.

swissinfo-Interview: Andrea Tognina
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Neuer Gewerkschaftsname: UNIA
200’000 Mitglieder
900 Angestellte
100 Regionalsekretariate
Sozialpartner für über 500 Gesamtsarbeits-Verträge, die für eine Million Arbeitende gültig sind

Die beiden grössten Gewerkschaften der Schweiz, GBI und SMUV, welche in der Industrie, dem Bau und im Gewerbe verankert sind, schliessen sich mit den Gewerkschaften VHTL, unia und actions-unia (Genf) aus dem Dienstleistungsbereich zusammen.

Es handelt sich um die grösste Gewerkschafts-Fusion in der Schweizer Geschichte. Die UNIA wird von zwei Tessinern, Renzo Ambrosetti (bisher SMUV) und Vasco Pedrina (bisher GBI), ko-präsidiert.

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