Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Verwahrlost” in der Schweiz: Kindswegnahmen in der Fürsorgepolitik 1900 – 1945

Mahlzeitenabgabe für arme Kinder in Zürich um 1908. Jahrbuch der Schweiz. Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 9/1908

Jahrzehntelang haben die Zürcher Vormundschafts-Behörden ärmeren Eltern mit fadenscheinigen Begründungen die Erziehungs-Berechtigung entzogen und deren Kinder ins Heim gesteckt. Ein neues Buch zeigt die unrühmliche Fürsorgepolitik dieser Zeit auf.

Für eine Kindswegnahme reichte schon eine negative Beurteilung der elterlichen Persönlichkeit (“willenlos, verkommen, klatschsüchtig. moralisch tief stehend”). Die Psychiatrie unterstützte das Vorgehen der Behörden in den meisten Fällen.

Die drastischen Eingriffe in die Familie waren um 1900 ein neues behördliches Instrument der Sozialpolitik. Man glaubte, wenn man bei der Jugend ansetze, könnten auch die sozialen Probleme einer zunehmend industrialisierten Schweiz gelöst werden. Hinter dem “Anrecht des Kindes auf Erziehung” versteckte sich der Anspruch des Staates auf unbedingte Tüchtigkeit seiner Bürger.

Kindswegnahmen tangieren eine Kernfrage des modernen Staates: Wo hört der Herrschaftsbereich des Staates auf und wo beginnt die Gestaltungsfreiheit des Menschen? Die Konfrontation zwischen Eltern und Behörden stehen beispielhaft für die Aushandlungsprozesse im Zusammenhang mit dieser Frage.

Das Buch der Zürcher Historikerin Nadja Ramsauer “Verwahrlost” – Kindswegnahmen und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900-1945 (Chronos-Verlag, Zürich) dokumentiert die unrühmliche Fürsorgepolitik. Die beschämende Vergangenheit soll jetzt offiziell aufgearbeitet werden.

Jean-Michel Berthoud

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft