“Verwahrlost” in der Schweiz: Kindswegnahmen in der Fürsorgepolitik 1900 – 1945
Jahrzehntelang haben die Zürcher Vormundschafts-Behörden ärmeren Eltern mit fadenscheinigen Begründungen die Erziehungs-Berechtigung entzogen und deren Kinder ins Heim gesteckt. Ein neues Buch zeigt die unrühmliche Fürsorgepolitik dieser Zeit auf.
Für eine Kindswegnahme reichte schon eine negative Beurteilung der elterlichen Persönlichkeit (“willenlos, verkommen, klatschsüchtig. moralisch tief stehend”). Die Psychiatrie unterstützte das Vorgehen der Behörden in den meisten Fällen.
Die drastischen Eingriffe in die Familie waren um 1900 ein neues behördliches Instrument der Sozialpolitik. Man glaubte, wenn man bei der Jugend ansetze, könnten auch die sozialen Probleme einer zunehmend industrialisierten Schweiz gelöst werden. Hinter dem “Anrecht des Kindes auf Erziehung” versteckte sich der Anspruch des Staates auf unbedingte Tüchtigkeit seiner Bürger.
Kindswegnahmen tangieren eine Kernfrage des modernen Staates: Wo hört der Herrschaftsbereich des Staates auf und wo beginnt die Gestaltungsfreiheit des Menschen? Die Konfrontation zwischen Eltern und Behörden stehen beispielhaft für die Aushandlungsprozesse im Zusammenhang mit dieser Frage.
Das Buch der Zürcher Historikerin Nadja Ramsauer “Verwahrlost” – Kindswegnahmen und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900-1945 (Chronos-Verlag, Zürich) dokumentiert die unrühmliche Fürsorgepolitik. Die beschämende Vergangenheit soll jetzt offiziell aufgearbeitet werden.
Jean-Michel Berthoud
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