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Ängste der Bevölkerung sind ernst zu nehmen

swissinfo.ch

Nach dem äusserst knappen Ja zur Einführung von biometrischen Pässen vom Sonntag sehen die Kommentatoren der Schweizer Zeitungen nun besonders Bundesrat und Parlament in der Pflicht, die Bedenken der Gegner ernst zu nehmen.

Streitpunkt in der Vorlage über die biometrischen Pässe war die zentrale Passdatenbank, in der alle Daten gespeichert werden. “Ein Datenschutzanliegen spaltet die Schweiz”, titelt etwa die Neue Zürcher Zeitung.

“Man darf annehmen, dass nicht die Einführung des biometrischen Passes als solche die Schweiz in zwei praktisch gleich grosse Lager gespalten hat, sondern vielmehr ‘Kleingedrucktes’ der Vorlage. Konkret die Erfassung der Fingerabdrücke der Passinhaber in einer zentralen Datenbank beim Bundesamt für Polizei”, so die NZZ.

Die zentrale Speicherung des Inhalts der Chips auf den Pässen sei rechtlich unnötig und werde auch nicht vom Schengen-Abkommen verlangt.

Es bleibe daher “ein Rätsel, warum der Bundesrat die Vorlage mit diesem ‘überfüllenden’ Element beschwerte, das, wäre allein darüber abgestimmt worden, beim Souverän wohl chancenlos geblieben wäre”.

Bundesrat in der Pflicht

Das Zufallsresultat müsse den Befürwortern zu denken geben, schreibt die Basler Zeitung. “Es zeigt nämlich eine weit verbreitete Skepsis in der Bevölkerung gegenüber dem zunehmenden Überwachungsstaat.”

Viele hätten wohl mit einigem Unbehagen der Reisefreiheit zuliebe Ja gestimmt. “Bundesrat und Parlament sind gut beraten, trotz ihres Sieges die vorhandenen Ängste ernst zu nehmen und bei den umstrittensten Punkten für Nachbesserungen Hand zu bieten.”

Auch Der Bund aus Bern ist der Meinung: “Die berechtigten Bedenken in Sachen Persönlichkeitsschutz dürften entscheidend zum hohen Nein-Anteil beigetragen haben.”

Nun sei der Bundesrat aufgefordert, diese Bedenken beim Vollzug des Ausweisgesetzes zu zerstreuen. Der Bundesrat stehe in der Pflicht, “bei der viel kritisierten zentralen Speicherung der Passdaten Missbrauch zu verhindern”.

Sicherheitspolitische Hardliner hätten bereits schon vor der Abstimmung gefordert, die Datenbank für die umstrittene Rasterfahndung zu öffnen. “Sie sind dank dem hohen Nein-Anteil zwar zurückgebunden worden. Beim nächsten aufsehenerregenden Tötungsdelikt, bei dem die Polizei im Dunkeln tappt, dürfte der Ruf, den Täter vie Passdaten zu suchen, aber nicht lange auf sich warten lassen.”

“Ohrfeige für Establisment”

Von einer “Ohrfeige fürs Polit-Establisment” spricht am Montag die Aargauer Zeitung. “Sie haben es nur dem Zufall zu verdanken, dass sie gestern nicht zu den Verlierern gehörten.”

Die arrivierten Politiker hätten einen groben Fehler gemacht: “Von Anfang an haben sie die Angst der Bevölkerung vor Fichierung und Datenmissbrauch nicht ernst genommen.” Nun gelte es, die richtigen Schlüsse aus dem Zufallsmehr zu ziehen: “Wollen sie nicht, dass ihnen das Volk bald wieder auf die Finger klopft, müssen sie dessen Sorgen ernst nehmen.”

Grosse Skepsis ortet auch der Tages Anzeiger. Bundesrat und Parlament müssten sich nun “hinter die Ohren schreiben, dass die Schweizerinnen und Schweizer Einschränkungen ihrer Freiheit und Privatsphäre nicht leichthin akzeptieren, bloss um etwas mehr Sicherheit zu bekommen”.

Kein Big Brother

Auch die Westschweizer Zeitungen sehen im knappen Ja vor allem ein Zeichen des Misstrauens gegenüber dem Bundesrat. Es werde ihm kein Ausrutscher beim Datenschutz verziehen werden, schreibt der Genfer Le Temps. “Im Land des Bankgeheimnisses, wo die Privatsphäre grossgeschrieben wird, trägt der Staat die doppelte Verantwortung dafür.”

Seit der Fichen-Affäre liessen die Schweizer keinen “Big Brother” mehr zu, warnt La Liberté aus Freiburg. “Seither gilt, wenn Big Brother sein Auge öffnet, lässt ihn die Schweiz nicht mehr aus den Augen.”

Und 24 Heures schreibt, die Regierung müsse nun erst einmal beweisen, dass die Biometrie ein Sicherheits-Instrument sei.

Der Corriere del Ticino schliesslich sieht im knappen Resultat die Liebe der Schweizerinnen und Schweizer für eine freie Wahl. “Die Entscheidungsfreiheit zwischen einem biometrischen Pass und einem normalen (wie das verschiedene europäische Länder anbieten, beginnend mit Deutschland) hätte nicht so viel Zweifel und Feindseligkeit in einem grossen Teil der Bevölkerung provoziert.”

Christian Raaflaub, swissinfo.ch

Das Ja zum biometrischen Pass am Sonntag war einer der knappsten Entscheide an der Urne überhaupt.

5504 Stimmen machten den Unterschied aus.

Weniger waren es letztmals im November 2002, als die Asyl-Initiative mit einer hauchdünnen Mehrheit von 4208 Stimmen verworfen wurde.

Der neue Pass wird laut der Landesregierung 10 Jahre gültig sein und 140 Franken kosten, zusammen mit einer Identitätskarte 148 Franken.

Für Kinder und Jugendliche betragen die Preise 60 bzw. 68 Franken.

Die Lieferfrist im Inland werde von 15 auf 10 und jene in den Vertretungen im Ausland von 40 auf 30 Tage verkürzt, erklärte Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf.

Biometrische Pässe

Ja: 953’136 (50,1%)
Nein: 947’632 (49,9%)

Komplementärmedizin

Ja: 1’282’838 (67,0%)
Nein: 631’908 (33,0 %)

Stimmbeteiligung: 38,3%

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