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Die Schweiz will den Wiederaufbau der Ukraine auf Kosten der Entwicklungshilfe finanzieren

Ein Frau inmitten von Ruinen
Eine Ruine in Kiew, nach einem russischen Drohnenangriff. KEYSTONE

Die Schweizer Regierung will den Wiederaufbau der Ukraine mit fünf Milliarden Franken finanzieren. Das geht auf Kosten anderer Regionen. Hilfsorganisationen sprechen von einem Kahlschlag der bewährten Entwicklungszusammenarbeit.

Mit wie viel Geld wird die Schweiz den Wiederaufbau der Ukraine finanzieren? Und vor allem: Woher soll dieses Geld kommen? Diese zwei Fragen wurden in den letzten Monaten heftig debattiert.

Am 10. April hat der Bundesrat den lang erwarteten Entscheid dann gefällt: 5 Milliarden Franken soll die Schweiz, verteilt auf die nächsten zwölf Jahre, dem kriegsversehrten Land bereitstellen.

Die ersten 1,5 Milliarden sollen gemäss der Strategie der Internationalen ZusammenarbeitExterner Link (IZA) 2025-2028 vollumfänglich aus dem Entwicklungsbudget finanziert werden. Das sind knapp 400 Millionen Franken pro Jahr.

Mehr Geld für Ukraine als für Subsahara-Afrika

Die Ukraine erhält damit mehr Geld als alle bilateralen Programme der Entwicklungszusammenarbeit in Subsahara-Afrika zusammen. Da das Gesamtbudget nicht aufgestockt wird, muss bei anderen Schwerpunktländern in der Entwicklungszusammenarbeit gespart werden.

Für die Zeit ab 2029 sollen laut dem Bundesrat dann “weitere Finanzierungswege” über die IZA hinaus geprüft werden, um die vorgesehenen 3,5 Milliarden Franken zu finanzieren.

Dabei verfehlte die Schweiz 2023 bereits zum wiederholten Mal das international vereinbarte Ziel, mindestens 0,7% des Bruttoinlandproduktes (BIP) an die Entwicklungshilfe zu geben.

Die Schweiz kommt auf 0,43% des BIP, zählt man die Asylkosten nicht dazu. Den grössten Teil der als öffentliche Entwicklungshilfe verbuchbaren Asylkosten macht die Unterbringung von ukrainischen Geflüchteten aus. Insgesamt steigen damit die Ausgaben leicht.

Im aktuellen OECD-LändervergleichExterner Link landet sie trotzdem auf Platz 10 der insgesamt 31 Mitgliedsländer. Die gesamthaft gestiegenen Ausgaben gehen auch in den meisten anderen Ländern auf die Unterbringung von Geflüchteten zurück.

Helvetas: “Kürzung ist falsch”

Dass der Wiederaufbau der Ukraine die ersten vier Jahre vollständig aus dem IZA-Budget gedeckt werden soll, empört Hilfsorganisationen. “Diese geplante Kürzung ist falsch und gefährlich”, sagt Melchior Lengsfeld, Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation Helvetas.

Wo genau gekürzt wird, hat der Bundesrat noch nicht kommuniziert. Sicher sei aber, sagt der Helvetas-Geschäftsführer, dass in Subsahara-Afrika oder im Nahen Osten deutlich weniger Menschen unterstützt werden könnten, zum Beispiel beim Zugang zu Trinkwasser oder zu Bildung.

Lengsfeld sieht in der geplanten Finanzierung auch eine Zweckentfremdung der Entwicklungsgelder. Schliesslich sei das Budget nicht dazu da, den Wiederaufbau eines europäischen Landes zu finanzieren.

“Wir halten die grosszügige Unterstützung der Ukraine beim Wiederaufbau für wichtig. Dies darf aber nicht zulasten der ärmsten Länder gehen.”

Lengsfeld zieht einen Bogen zur Migration: “Wenn die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern des globalen Südens derart gekürzt wird, drohen mehr Menschen ihre Perspektive vor Ort zu verlieren, was sich auch auf die internationalen Migrationsbewegungen auswirken kann.”

Erfolge der Entwicklungshilfe

Anders als oft dargestellt, hat die Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten zu vielen Erfolgen beigetragen. Die extreme Armut ist seit 1990 weltweit von 30% auf unter 10% gesunken, die Unterernährung ist um einen Drittel zurückgegangen, die Lebenserwartung über zehn Jahre gestiegen.

“Das sind hart erarbeitete Fortschritte, zu denen auch die Schweiz beigetragen hat”, sagt Lengsfeld.

Im Nachgang der Corona-Pandemie und in einer Zeit von globalen Herausforderungen wie den vielen Kriegen und dem Klimawandel, sei es unabdingbar, diese Unterstützung aufrechtzuerhalten.

Nicht zuletzt sei es eine geopolitische Frage, denn immer öfter würden bei einem Rückzug der westlichen Länder China oder Russland in die Bresche springen. Dies sei aktuell beispielsweise im Niger zu beobachten.

TraorÈ und Putin lächeln von einem Poster in Ouagadougou
In Burkina Faso hat sich die Militärjunta vom Westen ab- und Russland zugewendet. KEYSTONE

Kritische Reaktionen auf Plan des Bundesrats

Laut der neuesten SicherheitsstudieExterner Link der ETH Zürich ist die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, die Schweiz solle mehr Entwicklungszusammenarbeit leisten.

Auch die Rückmeldungen von politischen Parteien, Organisationen und den Kantonen, die der Bundesrat auf den Entwurf der Strategie erhielt, zeigen ein kritisches Bild: In 75% der VernehmlassungsantwortenExterner Link wurde gefordert, dass die Ukraine-Hilfe nicht zulasten anderer Regionen gehen darf.

Trotzdem lehnte der Nationalrat einen Antrag der Finanzkommission für einen speziellen Fonds für den Wiederaufbau der Ukraine ab. Entscheidend waren die Stimmen der Mitte-Partei, die auf die Linie von FDP und SVP eingeschwenkt ist.

Der Mitte-Nationalrat Simon Stadler schreibt auf Anfrage: “Uns überzeugte die Antwort des Bundesrates, welcher den Antrag ebenfalls ablehnte. Da der Bundeshaushalt in Schieflage ist und viele finanzielle Ansprüche konkurrieren, macht eine Teilfinanzierung über das IZA-Budget für mich absolut Sinn.”

Stadler wie auch andere Parlamentsmitglieder argumentieren mit dem Finanzhaushaltsgesetz: Gemäss diesem könne man den Betrag für die Ukraine nicht ausserordentlich verbuchen, weil der Wiederaufbau ein planbares – also kein unvorhersehbares – Ereignis sei.

“Das ist Interpretationssache”, sagt Roland Fischer, Dozent für Finanzpolitik und Aussenwirtschaftstheorie an der Hochschule Luzern.

Er verweist auf die Coronavirus-Pandemie, für welche die Unterstützungsgelder ebenfalls als ausserordentlich verbucht worden seien, auch noch im zweiten Pandemiejahr.

“Ob es sich um ein unvorhergesehenes Ereignis handelt, ist eine politische, keine juristische Entscheidung”, sagt Fischer, der bis Ende 2023 als Nationalrat der Grünliberalen Partei selbst die Politik mitprägte.

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Lücken in der Bundeskasse

Tatsächlich ist die Bundeskasse unter Druck, es klaffen Lücken in Milliardenhöhe. Das müsste laut Fischer nicht sein. Denn die Schweiz hat eine im Vergleich zu anderen Staaten sehr restriktive Schuldenbremse, die grundsätzlich keine Neuverschuldung zulässt. Damit ist der Bund verpflichtet, Investitionen langfristig vollständig aus eigenen Mitteln zu finanzieren.

“Das ist nicht nur unnötig, sondern kontraproduktiv”, sagt Fischer. Damit verbaue sich die Schweiz Möglichkeiten für sinnvolle und notwendige Investitionen, ob das nun Kampfjets, niedrigere Steuern oder die Entwicklungszusammenarbeit sei.

Zum Vergleich: Sowohl die Maastricht-Regeln der EU als auch die deutschen und österreichischen Schuldenbremsen lassen eine gewisse Zunahme der nominellen Schulden zu.

Statt wie derzeit üblich die Schulden abzubauen, wäre es laut Fischer sinnvoller, die Schweiz würde die Schulden mittels einer Quote stabil halten, und zwar im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt. Damit würde sie sich dem Wirtschaftswachstum anpassen.

Eine Anpassung der Schuldenbremse?

Eine aktuelle AnalyseExterner Link von Cédric Tille, Professors für Volkswirtschaft an der Universität Genf, zeigt auf, dass die Schweiz damit pro Jahr 1,5 Milliarden Franken mehr ausgeben könnte – ohne die aktuell niedrige Schuldenquote zu erhöhen. Anders ausgedrückt: Würde die Schweiz die rigide Schuldenbremse anpassen, hätte sie durchaus finanziellen Spielraum.

Die linken Parteien SP und Grüne befürworten eine solche Anpassung. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament will davon aber nichts wissen.

FDP-Nationalrat Peter Schilliger sagte gegenüber der Neuen Zürcher ZeitungExterner Link, ohne die Schuldenbremse wäre das Parlament “unfähig zum sparen”.

SP-Nationalrätin Sarah Wyss räumte im gleichen Artikel ein, dass das Parlament “noch nicht soweit sei”, um an der Schuldenbremse zu rütteln.

Die SP wolle sich aber im Parlament mit aller Kraft dafür einsetzen, den Entscheid des Bundesrates über die Finanzierung der Ukraine-Hilfe zu korrigieren. Wie, ist noch offen.

“Wir arbeiten derzeit mit Hochdruck an einer mehrheitsfähigen Lösung, wie der Wiederaufbau der Ukraine mit anderen Mitteln finanziert werden kann”, sagt Wyss auf Anfrage.

Die definitive IZA-Strategie 2025-28 wird im Dezember vom Parlament verabschiedet.

Editiert von Benjamin von Wyl

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