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Katastrophen-Szenario oder Chance?

Zahlreiche Schulzimmer werden künftig leer bleiben. Keystone

Im Jahr 2014 werden fast 100'000 Kinder weniger als heute in die Schweizer Volksschule gehen. 5000 Klassen müssten geschlossen werden.

Die Prognose des Bundesamtes für Statistik beschäftigt Erziehungsdirektionen und Lehrpersonal.

Das Bundesamt für Statistik (BSF) spricht von einem 13%-igen Schülerschwund an den Schweizer Volksschulen bis ins Jahr 2014. Das würde die Schliessung von mehr als 5000 Schulklassen bedeuten.

Grund dieser unerfreulichen Prognose: die demografische Entwicklung. “Es ist nun mal so, dass die Geburtenrate in der Schweiz zurückgegangen ist”, sagt Laurent Gaillard, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BSF in Neuenburg, gegenüber swissinfo.

Regionale und kantonale Unterschiede

Der Schülerschwund trifft nicht alle Regionen und Kantone der Schweiz gleich. Im Kanton Bern zum Beispiel wirkt sich die Entwicklung besonders drastisch aus: Hier werden laut BFS im Jahr 2014 rund 20% oder 18’000 Kinder weniger die Schule besuchen. Das entspricht etwa 950 Klassen. Noch härter trifft es Kantone wie Schaffhausen, Thurgau oder Uri.

“Vom Schülerschwund sind eher ländliche Kantone und Gebiete betroffen”, sagt Gaillard. Dass die Städte davon verschont bleiben, habe vor allem mit den vielen Ausländerkindern zu tun. “Sogar ein flächenmässig ländlicher Kanton wie die Waadt hat weniger Probleme, weil die Mehrheit der Bevölkerung in den Städten am Genfersee lebt”, so der BFS-Mitarbeiter.

Laut BFS bleiben die Zahlen im Kanton Zürich einigermassen stabil. Die Kantone Genf und Zug können sogar mit Schülerzuwachs rechnen.

Prognosen bleiben Prognosen

Für die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sind die Prognosen des BFS ein gutes Planungsinstrument. “Prognosen bleiben aber Prognosen”, sagt Heinz Rhyn, Leiter des Koordinationsbereichs Qualitätsentwicklung bei der EDK, gegenüber swissinfo.

“Der angesagte Rückgang der Schülerzahlen wird sich etwa auf dem Niveau einpendeln, das wir vor sieben, acht Jahren gehabt haben. Wenn man die Entwicklung in den letzten 50 Jahren betrachtet, ist die Reduktion aber weniger dramatisch, als man zuerst meinen könnte.”

Auch eine Chance

Die Bildungsverantwortlichen müssten sich auf die Tatsache eines Rückgangs einstellen. “Das wird einiges bedeuten an Flexibilität und Umstrukturierung”, so Rhyn weiter. In den Randregionen werde diese Entwicklung enorme Schwierigkeiten verursachen.

Wenn Landschulen geschlossen werden, kann sich das negativ auf die Entwicklung ganzer Gemeinden auswirken. Denn das Schulangebot ist ein entscheidender Standortfaktor. Eine Familie will sicher nicht an einen Ort ohne Primarschule ziehen.

Andererseits sieht Rhyn im Schülerrückgang eine Chance, “weil dadurch teilweise die Bildungsbudgets entlastet werden”. Da würden Mittel frei, die eingesetzt werden könnten für schon lange geplante Projekte.

Rhyn erwähnt dabei die Basisstufe, in der vier Jahrgänge (Kindergarten, 1. und 2. Klasse) in einer Klasse unterrichtet werden. Oder die Schaffung von Tagesstrukturen und die Intensivierung des Fremdsprachen-Unterrichts.

Lehrpersonal sieht rot

Im Kanton Bern wird sich die Erziehungsdirektion künftig vermehrt mit Schliessungen von Klassen und Schulen auseinandersetzen müssen.

Die Lehrkräfte reagieren nervös. Die Berner Lehrerinnen- und Lehrer fordern von der Erziehungsdirektion wegen der drohenden Entwicklung bereits einen Sozialplan.

Gelassener sieht es der EDK-Vertreter: Er betont, dass die Lehrkräfte-Ausbildung in letzter Zeit stark reformiert worden sei, verbunden mit einer gesamtschweizerischen Diplom-Anerkennung. “Die Lehrerinnen und Lehrer können somit auch in anderen Kantonen Schule geben als in jenem, wo sie die Ausbildung absolviert haben. Das heisst, es gibt eine Öffnung des Arbeitsmarktes.”

Die Berner Lehrkräfte könnten allenfalls also auch ausserhalb des Kantons Stellen suchen. Und im Zusammenhang mit Europa gebe es sogar Tendenzen, dass der Arbeitsmarkt für Lehrkräfte internationalisiert werde, so Rhyn.

Numerus clausus für die Lehrerausbildung

Auch aus politischen Kreisen gibt es Reaktionen. So fordert die Schweizerische Volkspartei (SVP) des Kantons Bern einen Numerus clausus für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

Für Rhyn ist das “im Moment sicher keine Lösung”. Man wisse aus der Forschung, dass sich die Lehrer- und Lehrerinnen-Ausbildung eigentlich antizyklisch verhalten sollte. “Wenn Lehrermangel herrscht, sollten möglichst wenige ausgebildet werden, bei Lehrerüberfluss möglichst viele; denn bis diese Ausbildungen abgeschlossen sind, hat sich der Zyklus wieder gewendet.”

Und Rhyn weiter: “Wir haben im Moment einen Rhythmus von drei bis vier Jahren. Vor vier Jahren herrschte Lehrermangel, jetzt zeichnet sich Lehrerüberfluss ab. Diese Zyklen sind also derart kurzlebig, dass ein Numerus clausus im Moment nicht angesagt ist. Das wäre auch ein falsches Signal an die neu aufgebauten Pädagogischen Hochschulen.”

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

2014: Landesweit ca. 100’000 Volksschulkinder (13%) weniger als heute.

Das wären 5000 Klassen weniger.

Kanton Bern: 2014 ca. 18’000 (20%) weniger Schulkinder.

Das wären 950 Klassen weniger.

1 Schulzimmer, 1 Lehrer, 20 bis 30 Kinder zwischen 7 und 13 Jahren: So sah vor Jahrzehnten üblicherweise eine Schulklasse aus. Insbesondere in ländlichen Gebieten war es damals die Regel, mehrere Jahrgänge von Schülerinnen und Schülern in einem Raum zu unterrichten.

Diese alte Unterrichtsform ist wieder aktuell. Die Mehrklassenschule oder Mischklasse, wie sie heute bezeichnet wird, ist häufig die letzte Rettung für kleine Schulen auf dem Land.

Gemäss Prognosen des Bundesamtes für Statistik (BFS) ist bis in knapp zehn Jahren ein massiver Schülermangel in Sicht. Obwohl nicht alle Kantone und Regionen gleich davon betroffen sind, beschäftigt die BFS-Prognose Erziehungsdirektionen und Lehrpersonal.

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