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Tatort Schule

Die 6. Klasse aus Bazenheid am Eingang des Schulmuseums. swissinfo.ch

Die Schweiz hat seit diesem Sommer ihr erstes Schulmuseum. Es befindet sich im alten Schulhaus Mühlebach in Amriswil, Kanton Thurgau.

Das Museum legt den Schwerpunkt auf die 1920er und 30er Jahre und will ein Ort für das kulturelle Gedächtnis sein.

Die PISA-Studie hat es gezeigt: Die Schule in der Schweiz ist nicht mehr, was sie einst war. Das weltweit schlechte Abschneiden in Sachen Lese- und Sprachkompetenz hat Erziehungsbehörden, Lehrkräfte und die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Auch die Gewalt an den Schulen ist ein ständiges Thema. Steht da die Eröffnung des ersten Schweizer Schulmuseums nicht etwas quer in der Landschaft?

“Nein”, antwortet Renate Bieg, die Leiterin des Schulmuseums. “Wir bieten mit dem Museum einen Ort, wo man über Bildung sprechen kann, aber auch über Gewalt an der Schule. Das Thema ist nicht so neu, wie man immer wieder meint”, sagt die Historikerin und promovierte Museologin gegenüber swissinfo. “Gerade die Tradition der Bildungsgeschichte wird uns vielleicht differenzierter darüber sprechen lassen.”

Für Renate Bieg soll das Schulmuseum ein Ort der Begegnung sein, über die Generationen hinweg. “Ein Ort, an dem Bildungspolitik angesprochen wird, in die Vergangenheit hinein, aber auch in der Gegenwart.” Deshalb sei man auch mit pädagogischen Fachhochschulen sowie Lehrerseminaren im Gespräch und an einer Kooperation interessiert. Auch mit Universitäten habe man Kontakte.

Sonderausstellung Reformpädagogik

Unter dem Motto “Tatort Schule – Spuren erfahrungs-orientierter Pädagogik” wurde die erste Sonderausstellung in einer der ehemaligen Lehrerwohnungen eingerichtet.

Handarbeiten, der Blick durchs Fernrohr oder das Experimentieren mit verschiedenen Gewichten dokumentieren den Beginn der Reformpädagogik. Man sieht dreckige Gummistiefel, Klappstühle mit ausgefeilter Technik für die Arbeit im Freien und verschiedene Schülerarbeiten oder auch Arbeitsmaterialien, wie das 1928 patentierte Physikmodell der schiefen Ebene.

Auch hier sieht Museumsleiterin Renate Bieg einen Zusammenhang mit der Gegenwart. Heute spreche man wieder von Waldschulen, Schulen im Freien. Das seien Themen, die bereits in der Zwischenkriegszeit und sogar ansatzweise schon im 19. Jahrhundert da gewesen seien.

Zum einen zeige die Ausstellung Kontinuitäten, zum anderen aber auch technische Entwicklungen, neue gesellschaftliche Ausprägungen, die neue Rahmen-Bedingungen geliefert hätten. Zu sehen ist die ganze Entwicklungs-Geschichte der Hygiene, mit Wasser, mit Strom, mit Computer.

Kulturelles Gedächtnis

Die Veränderungen und Herausforderungen im Bildungswesen sind heute enorm. Gerade deshalb wolle man mit dem Schulmuseum “einen Ort für das kulturelle Gedächtnis” schaffen, sagt Stiftungsrats-Präsident Dominik Joos gegenüber swissinfo. “Wir sind der Überzeugung, dass es wichtig ist zu verstehen, woher man kommt, wenn man darüber diskutiert, wohin man will.”

Als Dauerausstellung ist im Obergeschoss des Museums ein Schulzimmer eingerichtet wie in den 1920-er Jahren. Dabei ist Anfassen und Ausprobieren ausdrücklich erlaubt.

So setzen sich die Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse aus Bazenheid im Toggenburg, die heute im Museum zu Besuch sind, an die uralten Pulte und blättern in uralten Lesebüchern. Es wird auch munter auf Schiefertafeln geschrieben.

Ergänzt wird die Dauerausstellung durch einen Film aus dem Jahr 1935 und andere museums-pädagogische Angebote.

Heute nicht gegen gestern tauschen

Den Sechstklässlern Valéry und Sandro gefällt das Schulmuseum. “Es ist spannend, und man lernt viel darüber, wie es früher war”, sagt Valéry. “Heute haben wir es schön mit all unseren vielen Sachen.” Sandro findet den heutigen Schulalltag auch schöner, vor allem “wegen dem Computer”.

Beide wussten aber schon vor dem Museumsbesuch ein bisschen, wie es früher in der Schule war: Sandro “von der Grossmutter”, Valéry, “weil mein Vater Antiquitätenhändler ist”. Für beide ist klar: Auf keinen Fall möchten sie die Schule von heute gegen jene von gestern tauschen.

Heidi-Land für die Schule?

Als bekannt wurde, dass das erste Schweizer Schulmuseum eröffnet wird, hätten zahlreiche Lehrer negativ reagiert, erklärt Stiftungsrats-Präsident Dominik Joos. Tenor der Kritiker: “Das ist wirklich das Letzte, was wir heute brauchen, ein Heidi-Land für die Schule.”

Urs Bischofberger, Klassenlehrer der Schülerinnen und Schüler aus Bazenheid, sieht es anders: “Ich schaue alles positiv an. Ich finde das erste Schulmuseum in der Schweiz eine gute Idee”, sagt er gegenüber swissinfo. Es werde gut vermittelt, mit welchen Mitteln früher Schule gegeben worden sei.

Der Lehrer findet das ganze Haus, die Ambiance “sehr toll”. Natürlich sei alles ein bisschen Folklore, Nostalgie. “Aber ich kann mich selber nicht mehr so gut daran erinnern. Ich würde gern mal einen Tag oder zwei so unterrichten, wie man es 1935 getan hat. Aber da fehlen mir die Hintergründe, da ich mit 40 Jahren ein junger Lehrer bin”, lacht Urs Bischofberger.

Die Kinder seien vermutlich etwas überrascht von der Fülle des Raums. So weit bis 1935 zurückzublicken, sei für seine Schülerinnen und Schüler natürlich schwierig. Das müsse dann in der Schule verarbeitet werden, sagt der Lehrer.

Keine öffentliche Unterstützung

Das erste Schweizer Schulmuseum muss sich selber helfen. Denn für seinen Betrieb gibt es von der öffentlichen Hand keine finanzielle Unterstützung, sagt Stiftungs-Präsident Dominik Joos.

Deshalb sind ergänzende Angebote zum Schulmuseum wichtig, wie zum Beispiel ein mit modernster Technik ausgestatteter Seminar-Raum, der auch für Workshops, Fortbildungen und Klassen-Zusammenkünfte vermietet wird. Auch einen Museumsshop gibt es. Zudem wird eine Kooperation mit dem regionalen Tourismus ins Auge gefasst.

Die Stiftung Schulmuseum Mühlebach hat heute rund 400 Kollektiv- und Einzelmitglieder. Als Ziel sei eine Verdoppelung geplant, sagt Dominik Joos. Unter den Sponsoren befinden sich neben Privat-Stiftungen, Privatfirmen und Gemeinden auch nationale Institutionen wie Pro Helvetia und Pro Patria.

Jean-Michel Berthoud

Das ehemalige Schulhaus wurde 1846 in Pisé-Technik (lokal vorhandenes Erdmaterial, mit einem Tongehalt zwischen 5 bis 10%, zwischen Schalungen eingestampft) gebaut und ist baugeschichtlich eine Besonderheit
Schwerpunkt der ersten Ausstellung liegt in den 1920er und 1930er Jahren
Sonderausstellung: “Tatort Schule – Spuren erfahrungsorientierter Pädagogik”
Die Stiftung Schulmuseum Mühlebach hat rund 400 kollektiv- und Einzelmitglieder. Von der öffentlichen Hand gibt es keine Unterstützung

Im alten Schulhaus Mühlebach in Amriswil, Kanton Thurgau, steht seit dem 18. August das erste Schweizer Schulmuseum. Der Schwerpunkt der Ausstellung in dem ehemaligen, 1846 erbauten Schulhaus liegt in den 1920er und 1930er Jahren.

In den einzelnen Erlebnisräumen werden die Anfänge der individualisierten Schule und das reformpädagogische Prinzip der Arbeitsschule dokumentiert. Das Museum versucht, Schulgeschichte für Besucherinnen und Besucher lebendig zu machen.

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