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Bill Barazetti, der “Schweizer Schindler”

Bill Barazzetti (links) war ein militanter Nazi-Gegner. ZVG

Im "Garten der Gerechten" in Jerusalem sind Namen für nichtjüdische Retterinnen und Retter verzeichnet. Auf einem Schild unter dem Ländernamen Schweiz stösst man auf Bill Barazetti. Doch in Bern figuriert dieser nicht als Schweizer Bürger. Wie ist das möglich?

Ausgehend von diesem ersten “Mysterium” – es ist nicht das einzige – stösst man auf einen Mann mit einem abenteuerlichen Leben, in dem sich Komplexität, Heldentum und Widersprüche der damaligen Schreckensjahre spiegeln.

Denn Werner Theodore Barazetti, genannt Bill, stand für viele Dinge. Als junger Mann und Gegner von Hitler verhalf er Sozialdemokraten und Kommunisten aus dem Nazideutschland zur Flucht, er war aber auch Mitarbeiter der britischen und tschechoslowakischen Geheimdienste.

Sein Name ist in Yad Vashem – Israels wichtigster Holocaust-Gedenkstätte – in Marmor eingraviert. Grund: Er nahm an einer der wichtigsten Rettungsaktionen für jüdische Kinder in Prag teil.

Nur die Pflicht getan

Es handelt sich um 700 Kinder, die mit sieben Zügen von der durch die Deutschen besetzten Tschechoslowakei nach England gebracht wurden. Die Organisation dieses Kindertransports oblag damals dem jungen Financier Nicholas Winton, den wir in seinem Haus in der Peripherie Londons trafen.

Er ist heute über 100 Jahre alt. Er sagt, was er immer sagte: “Ich machte nur das, was ich machen musste. Die schwierigste Aufgabe war es, englische Gastfamilien zu finden, welche die Kinder aufnahmen, so wie es die englische Regierung forderte; jede Familie musste 50 Pfund als Depot hinterlassen. Das war damals ein gewaltiger Betrag.”
Mehr noch: “Wir hätten noch viel mehr Kinder retten können, wenn nicht so viele Persönlichkeiten, die ich in den USA kontaktiert hatte, meinen Vorschlag unter jedem möglichen Vorwand ablehnten.”

Staatsbürgerschaft verloren

Und was hat Bill Barazetti damit zu tun? Seine Familie stammte aus dem Val Vigezzo und war nach Deutschland emigriert. Dort wurde Bill 1914 geboren. Später zog die Familie in die Schweiz, weil der Grossvater einen Ruf für eine Professur für Rechtswissenschaft erhalten hatte.

Alle Familienmitglieder wurden eingebürgert. Doch Ferdinand, der Vater von Bill, verzichtete auf das Schweizer Bürgerrecht, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war und den Aufstieg Hitlers an die Macht begleitet hatte. Mit ihm verloren automatisch alle weiteren Familienmitglieder den Schweizer Pass.

Doch die Familie Barazetti war politisch tief gespalten. Ferdinand und der jüngste Sohn Bruno sympathisierten mit den Nazis, während Bill als Student in Hamburg die Nazis militant bekämpfte.

Bill unterstützte Widerstandskämpfer bei ihrer Flucht aus Deutschland. Schliesslich flüchtete er selbst, wurde aber von der Gestapo gestellt. Er wurde geschlagen und in einem Waldstück liegen gelassen. Offenbar glaubte man, er sei gestorben. Doch eine junge Frau namens Anna, eine Sudetendeutsche, die später in Prag seine Frau wurde, rettete ihn.

Rettungsaktion in Prag

Genau hier in Prag begann die aussergewöhnliche Geschichte, die in Israel einen Helden aus ihm gemacht hat. Bill Barazetti arbeitete mit der Engländerin Doreen Warriner zusammen, die im Britischen Komitee für Flüchtlinge aktiv war.

Financier Nicholas Winton vertraute im Januar 1939 Bill Barazetti den Transport von jüdischen Kindern nach England an. Genau 669 Kinder konnten mit den “Rettungszügen” in Sicherheit gebracht werden.
Der grösste Teil der Kinder, die keinen Platz in diesen Zügen fanden, wurde in die Konzentrationslager gebracht, vor allem nach Auschwitz. In der Tschechoslowakei lebten vor der deutschen Besetzung 88’000 Juden. Nur 13’000 überlebten.

Zeit der Dankbarkeit

Ein halbes Jahrhundert lang, bis 1988, war diese aussergewöhnliche Rettungsaktion in Grossbritannien nicht bekannt. Vollkommen zufällig stiess die BBC auf die Geschichte. Und Nicholas Winton wurde über Nacht ein Nationalheld. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt geschwiegen, weil er überzeugt war, nichts Aussergewöhnliches getan zu haben.

Doch Winton wurde mit der Dankbarkeit der geretteten Kinder und ihrer Nachfahren überhäuft. Es sind mehr als 5000 Personen, die sich liebevoll “Winton Children” (Winton Kinder) nennen. Erst einige Jahre später entdeckte man die Teilnahme von Bill Barazetti an der Operation.
Massgeblich für diese Entdeckung waren zwei der damals geretteten Kinder: Hugo Marom (einer der Gründer der israelischen Luftwaffe) und Mordechai Segal (ein ehemaliger Funktionär des israelischen Militärs). Sie forschten nach Bill Barazetti und signalisierten seinen Namen der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. 1992 folgte der Entscheid, seinen Namen in den “Garten der Gerechten” aufzunehmen.

“Das Schweizer Dilemma”

Es war ausgerechnet bei der Zeremonie in Yad Vashem, bei der Bill Barazetti für eine Überraschung sorgte. In einem Brief, den er kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 an die Zeitschrift Time Magazine schrieb, sprach er darüber: “Als entschieden war, dass mein Name auf der Mauer der Gerechten beim Holocaust-Museum in Jerusalem erscheinen sollte, wurde ich gefragt, unter welcher Nation dieser erscheinen sollte. Ich musste einen Moment nachdenken: Tschechische Republik? England? Österreich? Deutschland? Frankreich? Nein – am Ende entschied ich mich für die Schweiz.“

Barazetti hatte seinem Brief den Titel “Das Schweizer Dilemma” gegeben. Er erklärte seine Wahl mit der Tatsache, die Ahnen am Fusse des Simplons ehren zu wollen, “um daran zu erinnern, dass trotz der Ereignisse des 20. Jahrhunderts in den alten Schweizer Dörfern der Geist einer Volksdemokratie geboren worden ist: Kein Schweizer und kein Europäer soll dies je vergessen.”

Aldo Sofia, swissinfo.ch
(Aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Barazetti war für viele Überlebende ein Held, doch es gibt auch Stimmen, wonach er sich in Widersprüche verstrickte, beispielsweise bei Erklärungen gegenüber Yad Vashem.

Es gibt also Licht und Schatten über diesem Mann, der von 1940 bis 1945 für die englischen Geheimdienste tätig war. Barazetti befragte deutsche Kriegsgefangene.
Nach dem 2.Weltkrieg anerkannte London die Wichtigkeit seiner Dienstleistung im Kampf gegen die Nationalsozialisten. Im englischen Nationalarchiv gibt es sogar ein Dossier zu Bill Barazetti. Es ist aber streng geheim und nicht vor 2049 der Öffentlichkeit zugänglich.

Im Parlament des Vereinigten Königreichs wurde der Tod von Bill Barazetti in einer Motion am 6.November 2000 mit Traurigkeit zur Kenntnis genommen.

Der Verstorbene wurde als “Britischer Schindler“ geehrt.

Einige der geretteten jüdischen Kinder haben die Schweiz aufgefordert, Barazetti wieder die Schweizer Staatsbürgerschaft zu verleihen.

Doch auf den Antrag kann aus gesetzlichen Gründen nicht eingetreten werden. Immerhin antwortet der ehemalige Schweizer Botschafter in Tel Aviv, Pierre Monod, auf einen Brief von Hugo Marom: “Gemäss unseren Informationen hat sich Barazetti mit Mut gegen die Nazis gestemmt, um viele jüdische Kinder zu retten“.

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