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Personenfreizügigkeit vor entscheidender Prüfung

Die Schweiz und die EU: Der bilaterale Weg scheint beide Seiten zufrieden zu stellen.

In den Beziehungen mit der EU hat die Schweiz auf den bilateralen Weg gesetzt. Für den Europaexperten Laurent Goetschel fällt die Bilanz der bilateralen Beziehungen positiv aus, auch wenn es gelegentlich zu Unstimmigkeiten kommt.

Im Interview mit swissinfo analysiert Goetschel, Professor am Europainstitut der Universität Basel, den bilateralen Weg und spricht über die kommende Abstimmung am 8. Februar zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit.

swissinfo: Die Schweiz hat nach dem EWR-Nein den bilateralen Weg im Verhältnis mit der EU eingeschlagen. Komplexe Probleme müssen in langwierigen Verhandlungen gelöst werden. Haben Sie nicht den Eindruck, dass die EU es einmal Leid sein könnte, diese Verträge mit Bern weiter zu verhandeln?

Laurent Goetschel: Nein, überhaupt nicht. Sonst hätte sie es wohl schon lange signalisiert. Doch die EU hat – genauso wie die Schweiz – die Prioritäten sehr pragmatisch gesetzt und dann bestimmte Themenbereiche ausgehandelt. Dieses Vorgehen ist im Interesse beider Seiten.

Man muss aber betonen, dass in jüngster Zeit der so genannte “Acquis communautaire” die Grundlage der Verhandlungen war. Das heisst: Es geht um Modalitäten, wie europäische Normen und Richtlinien in der Schweizer Gesetzgebung zu verankern sind.

swissinfo: Wie lange wird die Schweiz ihre Position gegenüber der EU – etwa in Steuerfragen – noch aufrecht erhalten können?

L.G.: Die Eidgenossenschaft hat in dieser Angelegenheit schon stark zurückbuchstabiert. Noch vor einigen Jahren hiess es von Schweizer Seite, dass es keinerlei Spielraum für Diskussionen gäbe. Und vor kurzem reisten gleich drei Schweizer Minister nach Brüssel und sprachen ausschliesslich über Steuerfragen.

Der Bundesrat versucht nun Lösungen zu präsentieren, die sowohl für die EU als auch für die betroffenen Kantone befriedigend sind. Man muss aber festhalten, dass auch Bundesbern an einer einvernehmlichen Lösung mit Brüssel sehr interessiert ist. Die Lösungen werden der Bevölkerung wahrscheinlich als Reformen präsentiert, die unausweichlich sind. Aber das ist Teil des politischen Marketings.

swissinfo: Welche Meinung vertreten Sie in Hinblick auf die Abstimmung zur Personenfreizügigkeit am 8.Februar 2009?

L.G.: Bei einem solchen Urnengang nimmt die Bevölkerung vor allem eine Güterabwägung vor: Kosten gegen Nutzen. In Bezug auf die Personenfreizügigkeit konnten die Schweizer Bürger feststellen, dass ihr Land nicht von Ausländern überrollt wurde oder massiv Arbeitsplätze für einheimische Arbeitskräfte verloren gingen.

Aber natürlich gibt es in allen Abstimmungen, welche die Ausländer sowie die Öffnung der Grenzen und des Arbeitsmarktes betreffen, eine starke emotionale Komponente. Zudem spielen die Konjunktur und die politischen Rahmenbedingungen eine Rolle. Wenn beispielsweise die EU im Moment der Abstimmung starken Druck in der Frage der Unternehmensbesteuerung aufsetzen sollte, könnte dies Einfluss auf das Resultat haben.

Ich bin der Auffassung, dass das Stimmvolk der Personenfreizügigkeitsvorlage zustimmen wird. Aber es ist schwer, präzise Vorhersagen zu machen.

swissinfo: In der Schweiz wird jeder Vertrag mit der EU dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Ist das nicht ein Hemmschuh in den Beziehungen zwischen Bern und Brüssel?

L.G.: Dieser Prozess ist schon sehr aufwändig, aber auch von grossem Vorteil. Denn er ermöglicht der Schweiz, sich in Europa stärker zu integrieren und gleichzeitig die Spielregeln der direkten Demokratie zu wahren.

Auch wenn es schnellere Wege gegeben hätte, die Personenfreizügigkeit einzuführen, hätte man in der Schweiz wohl nie darauf verzichten können, das Volk zu befragen. Es ist langsamer, aber letztlich effizienter. Es ist die bestmöglichste Art der Zusammenarbeit mit der EU nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992.

Damals hätten sich wohl wenige Leute vorstellen können, dass in den folgenden Jahren so viele bilaterale Abkommen mit der EU in wichtigen Dossiers abgeschlossen würden. Diese Abkommen haben sich zudem bewährt.

swissinfo: Was ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU?

L.G.: Die Abstimmung vom 8. Februar ist wirklich ein entscheidender Moment, denn es steht alles auf dem Spiel, was bisher gemacht wurde. Abgesehen davon gibt es keine neuen Herausforderungen, die nicht schon in den letzten Jahren diskutiert wurden.

Ich bin zudem überzeugt, dass so bald keine Debatte um einen EU-Beitritt zu erwarten ist. Wenn die Bevölkerung allerdings die Personenfreizügigkeit am 8. Februar ablehnen sollte, müssten die Beziehungen mit Brüssel wieder ganz neu ausgehandelt werden.

Wenn wir unseren Horizont etwas ausweiten, wird wohl die nächste Erweiterung der EU eine neue Herausforderung darstellen. Dann wird es wieder eine Abstimmung zur Personenfreizügigkeit geben. Aber bis es soweit ist, werden wohl noch einige Jahren ins Land ziehen.

swissinfo, Andrea Clementi
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Laurent Goetschel – 1965 in Bern geboren – hat 1993 am Institut für Internationale Studien in Genf promoviert. Danach war er als Forscher an einigen Schweizer Hochschulen sowie an der Universität Harvard (USA) tätig.

1997 nahm er seine Dozententätigkeit an der Universität Bern auf. Er leitete ein Nationalforschungsprojekt zur Schweizerischen Aussenpolitik. Zwischen 2003 und 2004 war er politischer Berater der Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey.

Goetschel ist zur Zeit Professor am Europainstitut der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace.

Die Schweiz verfolgt ihre Integration in Europa auf bilateralem Weg. Seit dem Freihandelsabkommen von 1972 haben sich die Beziehungen immer stärker durch Abkommen verwoben.

Die Bilateralen Abkommen I mit der EU (unterzeichnet im Jahr 1999) sind klassische Marktöffnungsabkommen in sieben Bereichen: Personenfreizügigkeit, Technische Handelshemmnisse, Öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr, Forschung.

Das zweite Vertragspaket, die Bilateralen II aus dem Jahr 2004, berücksichtigt weitere wirtschaftliche Interessen (Lebensmittelindustrie, Tourismus, Finanzplatz) und erweitert die Zusammenarbeit Schweiz-EU über den bisherigen wirtschaftlichen Rahmen auf weitere politische Bereiche wie Sicherheit, Asyl (Schengen/Dublin), Umwelt und Kultur.

Im Europabericht 2006 kam der Bundesrat zum Schluss, dass die materiell wie ideell verstandenen europapolitischen Ziele der Schweiz mit dem heute bestehenden Vertragswerk und dessen Weiterentwicklung am besten erreicht werden. Der EU-Beitritt bleibt einzig “eine längerfristige Option”.

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