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Schweiz/EU: Knacknuss freier Personenverkehr

Die Osterweiterung der EU geht voran. swissinfo.ch

Die Schweiz und die Europäische Union haben am Mittwoch in Brüssel ihre Verhandlungen über die Ausdehnung des freien Personenverkehrs auf die zehn künftigen EU-Mitglieder begonnen.

Der Verhandlungs-Spielraum der Schweizer Delegation ist klein, denn es droht ein Referendum.

Eigentlich sollten die Verhandlungen rasch und ohne grössere Schwierigkeit verlaufen. Doch das Ergebnis untersteht in der Schweiz dem fakultativen Referendum, das Volk hat also das letzte Wort.

Und bei einem Nein würde die Gesamtheit der bisherigen sieben bilateralen Abkommen aufgekündigt. Dies wegen einer Klausel, welche die Abkommen untereinander verbindet.

Helvetische Besonderheit



Einmal mehr ist die Europäische Union mit einer Besonderheit des schweizerischen Gesetzgebungs-Prozesses konfrontiert. Deshalb liess Dieter Grossen, Leiter der Schweizer Verhandlungs-Delegation, die Europäische Kommission sofort wissen, dass das Abkommen nicht vor 2005 in Kraft treten könne.

«Es braucht Geduld,» sagte der stellvertretende Direktor des Bundesamtes für Zuwanderung, Integration und Auswanderung (IMES).

Die EU ihrerseits wünscht, dass das Abkommen möglichst rasch auf die zehn neuen Mitgliedsländer ausgeweitet wird – das heisst noch vor deren Beitritt am 1. Mai 2004. Dies ist aus der Sicht der Schweizer Delegation «unrealistisch».

Der Volkswille

Nicht zuletzt, weil der wahrscheinliche Referendumsprozess Zeit in Anspruch nehmen wird. Zudem kann auch über die Weiterführung des jetzigen Abkommens im Jahr 2009 das Referendum ergriffen werden.

Bern wehrt sich jedoch nicht dagegen, dass das Personenfreizügigkeits-Abkommen auf die neuen EU-Staaten ausgeweitet wird. Der Bundesrat sprach in diesem Zusammenhang bereits von «einer Chance für die Schweiz».

Die Öffnung des auf 450 Millionen Menschen anwachsenden EU-Binnenmarkts sei für die Schweizer Wirtschaft ein wichtiger Schritt und eine Chance, bekräftigte das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zum Auftakt der Verhandlungen.

Man rechnet mit einem zusätzlichen Wachstum des Brutto-Inlandprodukts (BIP) von 0,2 bis 05%, was pro Jahr bis zu zwei Mrd. Franken ausmachen könnte.

Übergangsfristen



Für die Schweiz ist wichtig, dass die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts in Etappen vollzogen wird, wie das auch beim bisherigen Abkommen der Fall ist.

Auf diese Weise können bis 2004 einheimische Arbeitskräfte bevorzugt werden, bis 2007 darf Bern zudem die Zulassung von EU-Arbeitskräften kontingentieren. Danach sind Kontingente bis ins Jahr 2014 nur noch im Fall grosser Zuwanderung möglich.

Die EU will keine Ungleichbehandlung zwischen «alten» und «neuen» Mitgliedern und möchte daher diesen Zeitplan auf das Zusatzprotokoll übertragen. Die Frage der Übergangsfristen dürfte also ein Hauptstreitpunkt der Verhandlungen werden.

Laut Delegationsleiter Grossen ist die Ausgangslage gegenüber den neuen EU-Staaten für die Schweiz nicht die gleiche.

Mit den meisten der neuen Staaten habe man, anders als bei den bisherigen EU-Staaten, keine Abkommen, die ein Aushandeln der Zuwanderung in Etappen ermöglichen würde.

Neues Treffen im September

Am 10. September kommen die Delegationen zum nächsten Mal zusammen. Beide Seiten waren sich nach dem ersten Treffen einig, dass die Verhandlungen zum Jahresende abgeschlossen sein sollten.

Noch nicht verhandelt wurde über ein weiteres Thema: Die EU erwartet, dass sich die Schweiz auch finanziell an der Erweiterung der Union beteiligt. Auch bei diesem Anliegen gibt es hier zu Lande Widerstand, vor allem von Seiten der rechtsbürgerlichen SVP.

Die Verhandlungen über die Finanzierungsfrage werden wahrscheinlich erst nach den eidgenössischen Wahlen vom Herbst aufgenommen.

Bilaterale II

Neben der Ausweitung des Personenfreizügigkeits-Abkommens verhandeln Brüssel und Bern seit einiger Zeit auch über ein zweites Paket bilateraler Abkommen.

Besonderen Stellenwert haben dabei die Dossiers Dublin und Schengen (Asyl/Migration/Polizeizusammenarbeit) sowie die Bereiche Zinsbesteuerung und Betrugsbekämpfung (Bankgeheimnis).

swissinfo, Barbara Speziali, Bruxelles
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

Das Abkommen über den freien Personen-Verkehr ist mehrstufig:

Bis 2007 gelten jährliche Kontingente:
15’000 Daueraufenthalts-Bewilligungen
115’000 Kurzaufenthalte

Nach 2007 kann die Schweiz bei grosser Zuwanderung eine Schutzklausel anrufen.

2009 kann die Weiterführung des Abkommens einem Referendum unterbreitet werden.

2014: Volle Freizügigkeit

Auf den 1. Mai 2004 treten der EU 10 weitere Staaten bei.

Im erweiterten EU-Binnenmarkt werden dann rund 450 Mio. Menschen leben.

Die EU-Erweiterung erfordert Anpassungen beim bilateralen Abkommen Schweiz/EU zum freien Personenverkehr, das die Schweiz in Etappen umsetzen kann. Die volle Freizügigkeit wird erst 2014 erreicht.

Die EU möchte nun, dass derselbe Zeitplan auch für die neuen Mitglieder gilt, die Schweiz möchte neue Übergangsfristen.

Die Schweiz steht vor kniffligen Verhandlungen, denn bereits zeichnet sich ein Referendum ab.

Brüssel und Bern rechnen damit, die Verhandlungen auf Ende Jahr abzuschliessen. Die EU erklärte zum Auftakt der Gespräche, sie möchte das Zusatzprotokoll vor dem 1. Mai 2004 in Kraft setzen.

Ein aus Schweizer Sicht «unrealistisches» Ansinnen. Nicht zuletzt, wenn man an den Referendumsprozess denkt.

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