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Capitale de Noël?

Eintauchen ins Strassburger Lichtermeer. Jonas Dunkel

Strassburg hat sich entschieden, den Titel "Weihnachts-Hauptstadt" für sich in Anspruch zu nehmen. Grund dafür ist ein grossflächiger Weihnachtsmarkt, der den Klischees des Weihnachtskitschs jedoch genauso gerecht wird wie jeder andere Markt auch.

In der Weihnachtszeit verwandelt sich Strassburg in eine bunt glitzernde Märchenwelt. Die Stadt wird zur Pilgerstätte für Weihnachtsromantiker und Konsumfreaks. Aus allen erdenklichen Ecken reisen die Menschen nach Strassburg, um den berühmten Weihnachtsmarkt zu besuchen, in das Lichtermeer einzutauchen und den Duft von Zimt- und Glühwein zu inhalieren.

Hauptattraktion sind die zwölf Weihnachtsmärkte. Der Älteste ist der “Christkindelsmärik” auf dem Place Broglie, einem langgezogenen Platz, auf dem einst blutige Ritterkämpfe stattgefunden haben. Der Christkindelsmärik existiert seit 1570. Die Ritterkämpfe finden mittlerweile nicht mehr statt.

Neben organisierten Führungen, Besichtigungen und öffentlichen Konzerten ist der 30 Meter hohe, bunt beschmückte Tannenbaum auf dem Place Kléber eine weitere Attraktion. Er hüllt seine Umgebung in ein dumpfes Licht und sorgt damit für eine mystische Atmosphäre.

Breitspurige Marketingkampagne

Angetrieben wird der Weihnachtsmarkt von einer wirkungsvollen Marketingkampagne: “Strasbourg, Capitale de Noël”. Die unbescheidene Botschaft wird prominent platziert und sticht dem aufgeweckten Besucher sofort ins Auge. Weihnachts-Hauptstadt? Eine erstaunliche Botschaft angesichts der überlieferten Weihnachtsgeschichte. Hat Jesus Christus vor 2010 Jahren in Strassburg das Licht der Welt erblickt?

Zumindest die Tatsache, dass Strassburg in der heiligen Zeit von Touristen überflutet wird, könnte den Schluss nahelegen, dass es sich hier um eine heilige Pilgerstätte handelt. Unzählige Cars öffnen täglich ihre Schiebetüren, um die Menschenmassen freizulassen, die anschliessend im Zeitlupentempo zwischen den holzigen Verkaufshütten (so genannten Chalets) und mit Lichterketten beschmückten Fachwerkhäusern wandeln.

Rentner und kinderlose Paare

Neben Franzosen strömen auffallend viele Menschen aus dem angrenzenden Deutschland auf den Strassburger Weihnachtsmarkt. Auch den schweizerdeutschen Dialekt nimmt man in regelmässigen Abständen wahr. Bei genauem Hinsehen stellt man zudem fest, dass sich das Zielpublikum vorwiegend aus Rentnern mit Vorlieben für Gruppenausflüge zusammensetzt.

Dazu gesellen sich junge, kinderlose Paare, die sich vom Weihnachtsmarkt einen Schuss Romantik versprechen. Im Publikum inbegriffen sind all jene Zeitgenossen, die an den Glühwein-Ständen verweilen und den Weihnachtsmarkt als Legitimation betrachten, wieder einmal gehörig über den Durst zu trinken.

Massenanrennen ohne Charme

Die Ambiance auf dem Weihnachtsmarkt ist nicht so gemütlich, wie man es sich von der stolzen Weihnachtshauptstadt erhoffen würde. Im dichten Gedränge der Menschenmasse bleibt kein Raum für Liebe, Besinnlichkeit und Demut. Hingegen verfestigt sich der Eindruck, dass es sich bei diesem Weihnachtsmarkt um eine ganz gewöhnliche Massenattraktion handelt.

Man ist geneigt, sich die Frage zu stellen, was diesen Weihnachtsmarkt von allen anderen Weihnachtsmärkten unterscheidet. Der regionale Akzent auf Waren und Lebensmittel etwa ist nicht offenkundig. Neben den elsässischen Spezialitäten werden ebenso viele Waren “Made in China” angeboten werden.

Forderung nach mehr Authentizität

Die Diskussion um den Rummel und die Jahrmarkt-Atmosphäre hat längst die Öffentlichkeit erreicht, und die Forderung nach mehr Authentizität ist allgegenwärtig. Vor allem der Verkauf von nicht regionalen Produkten war vielen Einheimischen ein Dorn im Auge.

In diesem Jahr hat die Strassburger Exekutive reagiert und erste restriktive Massnahmen verabschiedet: Ab sofort dürfen keine Churros, Paninis und Plüschtiere mehr verkauft werden. Damit will man verhindern, dass die Stammkundschaft auf die Märkte der umliegenden Dörfer ausweicht und der eigene Markt restlos von auswärtigen Besuchern bevölkert wird.

Einzigartig ist auf dem Strassburger Weihnachtsmarkt nur der plakative Aufhänger der Marketingkampagne. Ansonsten ist wenig Originalität zu erkennen und der Markt unterscheidet sich kaum von allen anderen.

Immerhin erfüllt der Besuch des Marktes eine wichtige Voraussetzung für glückliche Weihnachten: Man muss bestimmt nicht alleine feiern.

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.

Zu ihnen gehört auch Jonas Dunkel, der von August 2010 bis Januar 2011 für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Strassburg berichtet.

Jonas Dunkel ist am 23. September 1981 in Vevey, Kanton Waadt, geboren.

Nach den Schulen studierte er an der Universität Freiburg Medien- und Kommunikations-Wissenschaft sowie Journalismus.

2009 schloss er das Studium mit einer Lizentiats-Arbeit über die narrative Entmythologisierung in den Frühwerken des Film-Regisseurs Jean-Luc Godard ab.

Im Winter 2010 folgt ein dreimonatiges Praktikum in der Multimedia-Redaktion des europäischen Kulturkanals ARTE in Strassburg.

Seit August ist er als Stellvertretung wieder in der Multimedia-Redaktion von ARTE tätig.

Zu seinen Hobbys gehören Fussball, Segeln, Tennis, Radsport, Literatur, Film und Geschichte.

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