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Cornelius Koch: “Maus-Menschen” an der Grenze

Cornelius Koch feierte den letzten 1. August in Como, wo jede Nacht viele Flüchtlinge ein Obdach finden. Keystone Archive

Cornelius Koch kam 1940 in Rumänien in einer Familie von Schweizer Wirtschafts-Flüchtlingen zur Welt. Heute ist Cornelius Koch ein Hoffnungsschimmer für Tausende von Flüchtlingen aus dem Süden, die an der Grenze zwischen Como und Chiasso eintreffen.

“Sulzer, Loki, Erb-Garage, Rieter, Töss: Ich kann mich an alle Bushaltestellen zwischen dem Bahnhof Winterthur und Töss erinnern. Ich habe sechs Monate dort gelebt. Es hat mir gut gefallen”, erzählt Alban, ein 16-jähriger Junge aus Albanien. Doch letztes Jahr musste er die Schweiz verlassen. Alban hat eine Lehre als Schlosser begonnen und lebt heute im Grenzort Como-Ponte Chiasso.

Noch jetzt sagt Alban “macchiiina” mit der falschen Betonung der Albaner, die Italienisch lernen. Deutsch spricht er gut. Doch nun ist nicht Winterthur seine zweite Heimat, sondern Como. Eine von zahlreichen Freiwilligen aus der Schweiz und Italien getragene Organisation sorgt dafür, dass Alban und weitere 70 minderjährige Flüchtlinge, die aus der Schweiz ausgeschafft wurden, eine Lehre absolvieren können. Das bedeutet weniger Jugendkriminalität in Como und freundschaftliche Verbundenheit mit Italien in den Herzen von 70 Jugendlichen in den nächsten 70 Jahren. – Dies ein Beispiel aus meinem Arbeitsalltag.

Das Telefon läutet. Ich muss mich sofort auf den Weg machen: Das Rote Kreuz von Tavernola teilt mir mit, dass die italienische Polizei eine siebenköpfige Familie aus Afghanistan aufgegriffen hat, die an der Schweizer Grenze zurückgewiesen wurde. Die Carabinieri nehmen gerade ihre Personalien auf, Fingerabdrücke, Fotoaufnahmen, Dokumente.

Ich passiere den Zoll und fahre zur Chiesa di Ponte-Chiasso. Genau an dieser Stelle wurde vor zwei Jahren Vater Renzo Beretta von einem armen Teufel erschossen. Auf meiner Autofahrt gehen mir viele Gedanken durch den Kopf: “Wie kommt es, dass der Tod dieses einfachen Landpriesters halb Europa erschüttert hat? 5’000 Personen nahmen im Duomo di Como an seinem Begräbnis teil, darunter ein italienischer Minister und vier Kardinäle. Sein Tod belastete unser Gewissen.”

In den vergangenen 30 Jahren haben 10’000 Flüchtlinge in Berettas Pfarrei Zuflucht gefunden. Der Glockenturm wurde in einen Schlafsaal umfunktioniert. Für die Flüchtlinge, die überall abgewiesen worden waren, war dies das erste Mal, dass jemand sie willkommen hiess. Como ist für all diese Menschen auf der Flucht in den Norden wie ein Nadelöhr. Heute kommen sie sogar aus Afghanistan.

Vor mir steht “meine” afghanische Familie: Zuvorderst die Eltern, dahinter in einer Reihe die 5 Kinder. Ich sehe die Verzweiflung in ihren Gesichtern – nach dieser langen Reise die geschlossene Schweizer Grenze und nun wieder die italienische Polizei. Ich gebe ihnen alles Geld, das ich bei mir trage: 120’000 Lire. Sie wollen das Geld nicht, wie sooft in solchen Fällen, schliesslich sind sie keine Bettler. Doch ich lasse nicht locker: “per i bambini, für die Kinder, for the children”. Der Jüngste lächelt, als ich ihm das Glöckchen meines Schlüsselanhängers reiche.

Die armselige Karawane setzt sich in Bewegung, verschwindet um die Ecke, das Glöckchen verklingt. Im Rotkreuz-Zentrum von Tavernola hat man nichts mehr von ihnen gehört. Vielleicht sind sie wie viele ihrer Schicksalsgenossen in der Gosse von Como gelandet. “Uomini-topi”, “Maus-Menschen”, nennt man sie hier.

Cornelius Koch

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