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Das befremdende Verhalten des Schweizer Justizministers

Bundesrat Christoph Blocher Äusserungen in der Türkei haben in der Schweiz zu erhitzten Reaktionen geführt. Keystone

Christoph Blocher hätte den Schweizer Anti-Rassismus-Artikel in der Türkei verteidigen und nicht kritisieren sollen, meint ein führender Rechtsexperte.

Marcel Niggli, Rechtsprofessor an der Universität Freiburg, sagte gegenüber swissinfo, es sei merkwürdig, dass Blocher diese Äusserungen auf einem offiziellen Auslandbesuch gemacht habe.

Christoph Blocher verursachte einen Proteststurm bei Politikern und Medien, nachdem er am Mittwoch gesagt hatte, dieser Teil des Gesetzes verursache ihm Magenschmerzen. Seiner Ansicht nach herrscht zwischen dem Anti-Rassismus-Artikel und der Redefreiheit ein gespanntes Verhältnis.

Am Donnerstag erklärte Innenminister Pacal Couchepin, Justizminister Blochers Bemerkungen seien “inakzeptabel”. Auch Bundespräsident Moritz Leuenberger zeigte sich überrascht. Er sagte, der Bundesrat werde sich bald treffen, um die Folgen zu diskutieren, die sich aus Blochers Äusserungen ergeben könnten.

Das aktuelle Schweizer Gesetz aus dem Jahr 1994 hat zu Untersuchungen geführt gegen zwei Türken, die in der Schweiz den türkischen Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 leugneten.

“Damals habe niemand bedacht, dass aufgrund dieses Gesetzes ein ‘herausragender türkischer Historiker’ von der Schweizer Justiz belangt werden würde”, sagte Blocher nach einem Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen Cemil Cicek.

Er sagte weiter, sein Ministerium werde eine Änderung der Anti-Rassismus-Strafnorm prüfen. Aber es liege am Parlament und der Regierung, über Änderungen zu entscheiden, fügte er hinzu.

swissinfo: Christoph Blocher sagte, die Anti-Rassismus-Strafnorm befinde sich in gewissen Bereichen im Konflikt mit der Redefreiheit in der Schweiz. Wie sehen Sie das?

Marcel Niggli: Das ist nicht richtig. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in vielen Fällen entschieden, dass Rassismus nicht durch die Redefreiheit geschützt sei.

swissinfo: Ist es nicht eigenartig, wenn ein Justizminister sagt, der Artikel 216bis des Schweizer Strafgesetzbuches verursache ihm Bauchschmerzen?

M.N.: Für mich hört sich das sehr befremdlich an – speziell dann, wenn er so etwas im Ausland sagt. Wenn dir ein Gesetz Bauchschmerzen verursacht, diskutierst du es und machst einen Änderungsvorschlag. Solange das Recht nicht geändert worden ist, bleibt es wie es ist.

swissinfo: Sollte Blocher als Justizminister nicht das Gesetz verteidigen?

M.N.: Stimmt, denn das Gesetz wurde beraten, dem Schweizer Stimmvolk zur Abstimmung vorgelegt und von diesem akzeptiert. Die Partei, welcher der Justizminister angehört (Schweizerische Volkspartei, SVP) hat schon einige Male versucht, dieses Recht abzuschaffen und ist bis jetzt jedes Mal gescheitert. Es ist also klar, dies ist das vom Volk gewollte Gesetz und deshalb sollte er es verteidigen.

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SVP

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweizerische Volkspartei (SVP) entstand 1971 aus der Fusion der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) mit den Demokratischen Parteien der Kantone Glarus und Graubünden. In den 1990er-Jahren legte die SVP stark zu und wurde 1999 zur wählerstärksten Partei im Parlament. Sie politisiert klar auf der rechten Seite des politischen Spektrums: Weniger Staat, eingeschränkte Zusammenarbeit mit…

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swissinfo: Machte Christoph Blocher einen Kniefall vor der Türkei als er diese Bemerkungen machte?

M.N.: Ich denke, bis zu einem gewissen Grade tat er das, wie viele andere Leute auch, weil die Türkei seit vielen Jahrzehnten darauf beharrt, dass es sich nicht um einen Völkermord (an den Armeniern) handelt. Aber die Frage, ob es einen Genozid gegeben hat oder nicht, ist lächerlich, da es sich nach den geltenden rechtlichen Kriterien um einen Genozid handelt.

swissinfo: Wird diese Geschichte für Blocher Folgen haben?

M.N.: Ich glaube nicht, dass das wesentliche Konsequenzen haben wird, da Bundesrat Blocher sich schon einige Male ähnlich verhalten hat. Es gab immer Proteste und Diskussionen – aber diese endeten nie mit irgendwelchen Konsequenzen.

swissinfo: Denken Sie, dass er allfälligen Rücktrittsforderungen Folge leisten wird?

M.N.: Ich glaube nicht. Was er in der Türkei getan hat, ist dasselbe, was er schon immer gemacht hat. Er repräsentiert mehr die Meinung seiner Partei als jene der Gesamtregierung.

swissinfo-Interview: Robert Brookes
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)

Die historische Deutung der Ereignisse, bei denen zwischen 1915 und 1919 rund 1,8 Mio. Armenier getötet wurden, ist seit Jahren Grundlage für Spannungen zwischen der Türkei und europäischen Staaten, darunter befindet sich auch die Schweiz.

Die Parlamente verschiedener Staaten, unter ihnen Frankreich, Russland und Italien, haben das Massaker an den Armeniern als Völkermord anerkannt.

1987 hatte sich das europäische Parlament dieser Betrachtungsweise angeschlossen.

2003 folgte der Schweizerische Nationalrat, die grosse Parlamentskammer. Die Schweizer Regierung zieht es vor, von “Deportationen” und “Massakern” zu sprechen.

Die Schweizer Anti-Rassismus-Strafnorm wurde 1994 eingeführt, unter anderem um zu verhindern, dass Holocaust-Leugner ihre Ansichten öffentlich verbreiten dürfen.

2005 eröffneten die Schweizer Behörden Strafuntersuchungen gegen den Historiker Yusuf Halacoglu, den Präsidenten der türkischen Historischen Gesellschaft, und den Politiker Dogu Perinçek, weil sie in der Schweiz das Massaker an den Armeniern 1915 verleugnet hatten.

Die Armenier sagen, dass während dieser Zeit rund 1,8 Mio. ihrer Volksangehörigen getötet wurden. Die Türkei weist dies zurück und spricht von 200’000 Toten.

In der Schweiz ist jede Äusserung, die einen Genozid verleugnet, verniedlicht oder rechtfertigt, ein Verstoss gegen die Anti-Rassismus-Strafnorm.

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