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Davos und Porto Alegre als Kontrapunkte

Keystone

In Davos ging am Dienstag (30.01.) das 30. Weltwirtschaftsforum (WEF) zu Ende. Zeitgleich zum WEF fand in Porto Alegre, Brasilien, das erste Weltsozialforum statt. Ein Kommentar dazu von Thomas Kesselring.

Im winterlichen Davos, zwischen Bergen versteckt und von einem Polizistenheer zusätzlich abgeriegelt, das exklusive Treffen der “Weltelite” (mit lokaler Gegenveranstaltung durch internationale Nichtregierungs-Organisationen). In der Sommerhitze der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre das globale Sozialforum – offen für alle, die mitmachen wollen, ohne besonderen Polizeischutz.

Beide Foren beschäftigt die Frage nach den Spielregeln internationaler Märkte. In Davos treffen sich die Befürworter der Deregulierung, des Rückzugs staatlicher Politik aus dem Markt, in Porto Alegre die Kritiker. Freie Märkte – so ihr wichtigstes Argument – leiden an der Entstehung von Allianzen, Kartellen und Monopolen, die die Schwächeren verdrängen, den Wettbewerb einschränken und bestehende soziale Unterschiede verschärfen. Im 20.Jahrhundert hat sich die Kluft zwischen dem reichsten und dem ärmsten Land mehr als verfünffacht.

Das Treffen in Davos dokumentiert in Wahrheit – entgegen allen Bekenntnissen zur Deregulierung – die enge Kooperation zwischen den “global players” in Politik und Wirtschaft – eine Kooperation, ohne die es dem Norden nicht gelänge, seine Agrarmärkte gegen die Konkurrenz aus dem Süden zu schützen.

Das Forum in Porto Alegre richtet sich nicht zuletzt gegen diesen Protektionismus. Es sucht nach Wegen, die Finanzmärkte zu bändigen, die Tendenz zu ökologischen Verwüstungen zu stoppen und krasse Benachteiligungen (vor allem im Süden) zu verringern. Schliesslich leben immer noch 1,3 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag. Die Stadt Porto Alegre leistet mit ihrer Sozialpolitik Pionierarbeit: Sie lädt die Bürger dazu ein, über die öffentlichen Ausgaben mitzuentscheiden, lässt Demokratie also gerade an der Nahtstelle zwischen Wirtschaft und Politik beginnen. Die Lage der sozial Benachteiligten, die besonders aktiv partizipieren, hat sich dadurch in wenigen Jahren spürbar verbessert.

Was ist von der Globalisierung zu halten? Der Begriff ist vieldeutig und erzeugt leicht Verwirrung. Erstens breiten sich lokale Errungenschaften, wie die Pizza oder der Samba, weltweit aus. Das gilt auch für die kapitalistische Marktwirtschaft samt ihrer Tendenz zum schrankenlosen Wettbewerb.

“Globalisierung” meint zweitens den auf allen Gesellschaften lastenden Druck, in diesem Wettbewerb zu bestehen – mittels lokal angemessenen Strategien, die sich immer rascher an wechselnde Situationen anpassen müssen. Die Foren in Davos und Porto Alegre unterscheiden sich vor allem in der Reaktion auf diesen zweiten Aspekt der Globalisierung.

Drittens lasten die Hypotheken des 20.Jahrhunderts – Vervierfachung der Weltbevölkerung, technische Ermöglichung der totalen Selbstvernichtung, ökologische Krise – auf allen Gesellschaften dieser Welt. Die Frage, ob wir damit auch einverstanden sind, erübrigt sich.

Viertens hat sich in wenigen Jahrzehnten mit der Vielfalt regierungs-unabhängiger Organisationen eine grenzüberschreitende Zivilgesellschaft formiert (daher die Veranstaltung in Porto Alegre!) und in noch kürzerer Zeit das Internet über den Erdball ausgebreitet. Diese Novitäten dürften irreversibel sein, ihre künftige Wirkung auf die internationalen Entscheidungsstrukturen und Problemlösungskapazitäten lassen sich aber nur schwer abschätzen – auch in Davos und in Porto Alegre.

Das militärische Sicherheitsdispositiv für “Davos” und der Umstand, dass “Davos” dieses Jahr zu nicht weniger als drei Gegenkonferenzen Anlass gibt (diejenige der attac in Zürich vom 26. Januar inbegriffen), sind deutliche Signale: Das Weltwirtschaftsforum wird von einer wachsenden Zahl von Personen als Affront gegen die demokratische Tradition der Moderne empfunden.

Nicht nur das – die Ziele der in Davos versammelten Weltelite erscheinen widersprüchlich: Die Forderung nach Beseitigung von “Marktverzerrungen” – Deregulierung – ist unglaubwürdig, und zwar nicht nur, weil kein Staat bereit ist, sich dieser Forderung konsequent zu unterwerfen. In einem völlig freien, von politischen Massnahmen unbehelligten Markt müssten auch Waffenhandel und Schlepperwesen toleriert werden. Das wäre offensichtlich absurd und wird gerade in Davos von niemandem befürwortet. Daraus folgt: Ungebremster, kriterienloser Wettbewerb kann kein sinnvolles Ziel wirtschaftlicher Reformen sein.

Märkte bedürfen einer Regulierung – nicht durch eine elitäre Minderheit, sondern durch alle Betroffenen. Allgemein nachvollziehbare Kriterien leisten zusätzliche Dienste. Solche Kriterien sind etwa das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Kleidung, Behausung, kostenlose Grundausbildung sowie ein Mitspracherecht – für alle.

Die Einigung weiter Teile der Völkergemeinschaft auf die Erklärung der Menschenrechte ist die vielleicht bedeutendste politische Leistung des 20. Jahrhunderts. Aus den Marktmechanismen kann man die Menschenrechte nicht ableiten. Die Menschenrechte deswegen als “Marktverzerrungen” zurückzuweisen, wäre blanker Zynismus.

Thomas Kesselring
Privatdozent und Publizist

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