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Debatte über Rationierung der Medizin lanciert

Eine Frage, die kommen wird: Wie viel darf ein Patient kosten? Keystone

Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen steigen und steigen, das medizinische Personal ist am Anschlag, kurz: Das Verhältnis von Kosten und Nutzen ist aus dem Lot. Ein – allerdings umstrittener – Ausweg könnte die Einschränkung der Behandlungen sein.

Als Folge der stetig wachsenden Gesundheitskosten vermag rund ein Drittel der Bevölkerung in der Schweiz die Krankenkassenprämien nicht mehr aus eigener Tasche zu bezahlen – die öffentliche Hand muss einspringen.

Eine Möglichkeit, an der Kostenschraube zu drehen, ist die Rationierung der medizinischen Behandlung. Aber bei welchen Patienten und welchen gesundheitlichen Problemen könnten die Behandlungen allenfalls eingeschränkt werden?

Verschärfend an der Situation wirkt der Mangel an Fachpersonal. Unter 1000 Ärzten sind es jedes Jahr nur 22, die neu dazugestossen sind. Um aber die aktuellen Bestände an Ärzten halten zu können, sollte der Anteil an Neulingen doppelt so hoch sein.

Um den gesellschaftspolitischen Zündstoff der  Fragen rund um eine Rationierung zu mindern, haben Experten versucht, mögliche Kriterien aufzustellen sowie die Auswirkungen auf Kosten und Nutzen zu bestimmen. Die Ergebnisse haben sie jüngst in zwei Studien präsentiert.

Beschränkung durch Personalengpass

Unter Ärzten wird die Diskussion erst unter vorgehaltener Hand geführt. Einige sind der Meinung, dass Rationierung bereits Tatsache ist, allein aufgrund des Personalmangels.

Ärzte müssen in ihrem Alltag häufig entscheiden, ob eine bestimmte Behandlung dem Patienten die erhoffte Besserung bringen könnte. Ein Faktor bei dieser Beurteilung sind auch die Kosten.

Klare Richtlinien für diese Evaluation gibt es aber nicht. Daniel Scheidegger, Chef-Anästhesist am Basler Universitätsspital, sieht das Ganze als gesellschaftspolitisches Problem. Nicht die Ärzte müssten unter sich entscheiden, sondern die Gesellschaft, sagte Scheidegger am Schweizer Radio.

Politiker zeigen keine grosse Begeisterung, das potenzielle Minenfeld zu betreten, denn erst vor zwei Jahren hatte der Bundesrat bekräftigt, dass er gegen die Idee einer Rationalisierung in der Medizin sei.

Bewegung kam erst wieder in die Sache, als das Bundesgericht in diesem Jahr in einem Urteil festhielt, dass eine Behandlung für 600’000 Franken pro Jahr überhöht sei.

Lebensqualität, aber für wie lange?

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz (AWS) und die Schweizer Vereinigung der Pharmaunternehmen (VIPS) nahmen die Bälle auf und legten kürzlich zwei Studien vor.

In der AWS-Studie untersuchten Forscher der Universitäten Basel und Zürich den Nutzen von Behandlungen aufgrund des Kriteriums der “qualitätsadjustierten Lebensjahre”, im Fachjargon englisch quality-adjusted life-years oder kurz QALYs genannt.

Dies ist ein Index, der zentrale Grössen der Lebenserwartung und der Lebensqualität berücksichtigt. Mit dem QALYs-Index lassen sich somit medizinische Leistungen mit unterschiedlichen Effekten und Nebenwirkungen vergleichen, wenn auch nur grob.

Ein Beispiel: Aufgrund des QALYs-Indexes kann auf eine Behandlung verzichtet werden, obwohl diese als lebensverlängernd erachtet wird. Dies dann, wenn die Lebensqualität nach der Behandlung als tief eingestuft werden sollte.

Die Pharmaindustrie nahm in ihrer Studie unter die Lupe, welche Auswirkungen die Festsetzung von Kostenobergrenzen hat. Dieses Modell wird in Ländern praktiziert, in denen die Kosten für die medizinische Grundversorgung von der öffentlichen Hand übernommen werden.

Zahlen allein reichen nicht

Das Fazit der Autoren: Ökonomische Faktoren allein genügen nicht, um faire Richtlinien aufzustellen. Denn beispielsweise ältere Menschen, Behinderte und Patienten mit seltenen Krankheiten riskieren eine Benachteiligung.

Das Modell der Fall-Obergrenze könnte auch zu sehr delikaten Situationen führen. So würde eine ältere Patientin, deren Leben dank einer Behandlung mit grosser Wahrscheinlichkeit gerettet oder stark verbessert wird, bei der Beurteilung die besseren Karten haben als ein junger Patient, dessen Leben mit derselben Behandlung nur um wenig verlängert werden könnte.

Der Schluss der Autoren beider Studien: Weder QALYs-Index noch Kostendach lassen sich in dieser Form auf das Schweizer Gesundheitswesen anwenden. Zudem kritisieren sie den Entscheid der Bundesrichter, weil sie sich in ihrem Urteil nicht auf wissenschaftliche Fakten abgestützt hätten.

Gespenst der “Todes-Gremien”

Auch wenn die Debatte über eine Rationierung der Medizin unpopulär ist und nur schwer in Gang kommt: Auf lange Sicht ist sie unausweichlich. “Fällt der Begriff ‘Rationierung’, wird das Thema sofort viel zu emotional”, sagt Thomas Zeltner, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). “Aber wir wollen keine Diskussionen um so genannte death panels, wie es sie in den USA gab.”

2009 versuchten Rechtskonservative, die Gesundheitsreform von US-Präsident Obama mit dem Schreckgespenst solcher “Todes-Gremien”, die über Leben und Tod von Patienten zu entscheiden hätten, zu versenken.

Zeltner spricht sich vielmehr für eine Optimierung des Schweizer Gesundheitssystems aus, denn da gebe es noch viel Spielraum.

Rolf Iten vom Forschungs- und Beratungsunternehmen Infras, welches die zweite Studie im Auftrag der Pharmaunternehmen erarbeitete, erachtet zwei Dinge als notwendig, bevor über eine Rationalisierung gesprochen werden könne: Einerseits der klare Nachweis für eine wirtschaftliche Notwendigkeit, andererseits die Garantie, dass die Ressourcen zum grösstmöglichen Nutzen der Gesellschaft verteilt würden.

Als ersten Schritt erachtet Matthias Schwenkglenks, der Leiter der ersten Studie, die Schaffung einer Agentur zur Technologiefolgen-Abschätzung im Gesundheitsbereich als notwendig.

Aufgabe dieses Gremiums wäre die Beurteilung von Behandlungen aufgrund von deren Wirksamkeit und Kosten. Dies unter Berücksichtigung von ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekten.

Die Schweizer Regierung hat bereits erste Schritte zur Einrichtung einer solchen Agentur eingeleitet. Konkrete Vorschläge werden in den nächsten Wochen erwartet. Thomas Zeltner warnt aber vor zu hohen Erwartungen. “Die Diskussion wird nicht nur sehr technisch sein, sondern auch hochpolitisch. Ein Institut zur Sicherstellung von Qualität und Patientensicherheit wird es frühestens 2017 geben”, so der Gesundheitsexperte.

Hintergrund der QALYs-Studie der Akademien der Wissenschaften Schweiz (AWS) waren die stets steigenden Kosten im Gesundheitswesen und der  Mangel von medizinischem Fachpersonal.

2009 flossen knapp 11,5% des Bruttoinlandproduktes (BIP) in das Gesundheitswesen. Der Schnitt der OECD-Länder beträgt 9.6%.

Laut OECD steht die Schweiz bezüglich Ausbildung von Ärztenachwuchs schlecht da.

Österreich beispielsweise bringt jährlich zweieinhalb Mal mehr neue Doktoren hervor.

Verschärft wird die Problematik durch die Überalterung der Gesellschaft, den Anstieg von Menschen mit chronischen Krankheiten, den Rückgang von Hausärzten auf dem Lande und die Zusammenlegung von Spitaldienstleistungen.

Die Infras-Studie der Schweizer Vereinigung der Pharma-Unternehmen (VIPS) ist eine Reaktion auf das Urteil des Bundesgerichts zur Begrenzung der Kosten für medizinische Behandlungen aus diesem Jahr.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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