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“Der Blick vor die eigene Haustüre reicht”

Bruno Kaufmann

Am ersten "Demokratie-Weltgipfel" üben sich Regierungsvertreter:innen aus 112 Staaten im Schönreden. Doch einer könnte Klartext sprechen: der Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin. Unser Demokratiekorrespondent schreibt hier in einer fiktiven Rede, was der Weltgemeinschaft in Sachen Demokratie aus seiner Sicht derzeit zu sagen wäre.

Herr Präsident Biden, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

Viele von Ihnen kennen mich schon ein bisschen. Ich bin der freundliche Weinbauer aus der französischsprachigen Schweiz, der vor gut zwei Monaten schon einmal zu Ihnen gesprochen hat. In meiner Rede vor der UNO-Generalversammlung.

In dieser Woche ist mein Nachfolger Ignazio Cassis für das Amt des Schweizer Bundespräsidenten 2022 gewählt worden. Ich werde deshalb schon am Neujahrstag wieder ein ganz gewöhnlicher Wirtschaftsminister sein. 

Heute aber spreche ich als engagierter und besorgter Bürger des Orts Bursins zu Ihnen, einer Gemeinde mit knapp 800 Einwohner:innen. Hier am waadtländischen Ufer des Genfersees bin ich aufgewachsen und habe erfahren, wie die – frei nach Winston Churchill – “am wenigsten schlechte aller Staatsformen” funktioniert – oder eben oft auch nicht funktioniert.

Denn machen wir uns nichts vor: Der Demokratie geht es weltweit nicht gut. Zwar sind wir heute alle – zumindest fast alle – prinzipiell Befürworter der Demokratie. Auch Regierungskolleg:innen aus Ländern, die schon gar nicht zu diesem Gipfeltreffen eingeladen worden sind. Zum Beispiel China. Vor wenigen Tagen hat Peking ein Weissbuch publiziert, das den Titel “Eine funktionierende Demokratie” (“Democracy That Works”)Externer Link trägt. Was darunter zu verstehen ist, wird im zweiten Abschnitt verdeutlicht: “China ist eine demokratische Diktatur”. Der Begriff “Diktatur” wird dann sicherheitshalber gleich noch sieben Mal wiederholt.

Aber nicht nur die Kolleg:innen in Peking tun heute so, als hätte es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und alle ihre Folgevereinbarungen – wie etwa die Europäische Charta der Menschenrechte – nie gegeben. Rund um den Erdball werden die grundlegenden Demokratiebegriffe von Regierungen immer öfter so zurecht gebogen, dass sich auch die offensichtlichsten Feinde der Aufklärung und Menschenrechte heute stolz als “Demokrat:innen” präsentieren dürfen.

Die FolgenExterner Link dieser Entwicklung sind unübersehbar: immer weniger Menschen leben heute tatsächlich in demokratischen Staaten. Aktuell sind es noch gerade einmal 39% (gegenüber 46% vor zehn Jahren). Standen die demokratischen Gesellschaften vor drei Jahrzehnten noch für über 80% der globalen Wirtschaftsleistung, so ist dieser Wert auf unter 50% gesunken. Hinzu kommt, dass politische Führungskräfte, die im Namen der Demokratie auf den Abbau derselben hinwirken, weltweit an Macht hinzugewonnen haben. Oder wie es mein philippinischer Amtskollege Rodrigo Duterte sehr offen sagte: “Vergesst Gesetze und Menschenrechte”Externer Link.   

Freundinnen und Freunde der Demokratie, es ist höchste Zeit, den undemokratischen Seiten unserer gerne hochgelobten Demokratien die Stirn zu bieten. Und dafür brauchen wir gar nicht einmal in die Ferne zu blicken – nach Peking oder Manila – sondern einfach vor unsere eigene Haustür. Und dies sage ich als ehemaliger Gemeindepräsident von Bursins am Genfersee und als Noch-Bundespräsident der Schweiz. Also als Mitglied demokratischer Gemeinwesen, welche in internationalen Vergleichen gar nicht so schlecht abschneiden. 

Dabei hängt der Haussegen bei mir zuhause in der Schweiz schiefer als auch schon. Und das nach einer Volksabstimmung vor wenigen Wochen, an der sich in absoluten Zahlen mehr Menschen denn je beteiligt haben in der demokratischen Geschichte der Schweiz*.

In dieser Abstimmung Ende November ging es um die von meiner Regierung mit Unterstützung des Parlaments beschlossenen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Dagegen wurde das Referendum ergriffen. Ein Recht, das in der Schweiz bei jedem neuen Gesetz allen Bürger:innen, die 50’000 Unterschriften sammeln, zusteht. Das trägt dazu bei, dass bei umstrittenen Vorlagen am Ende die stimmberechtigten Bürger:innen das letzte Wort haben. 

Im Schatten der emotional geführten Kampagne versuchten selbsternannte Freunde von Demokratie und Freiheit in diesem Herbst wiederholt, das Bundeshaus in der Hauptstadt Bern – den Sitz von Regierung und Parlament – mit Gewalt zu bedrängen. Erklärungen wurden laut, der ganze Abstimmungsprozess sei manipuliert und deshalb der Volksentscheid nicht zu respektieren. Diese Entwicklungen sind neu und ein Weckruf: Sogar in der traditionell stabilen Schweiz zeigt nun das demokratische Fundament für alle sichtbare Risse.

Mit einem oberflächlichen Zudecken solcher Bruchstellen ist es nicht getan: die Welt, die Schweiz, und Bursins brauchen jetzt einen Sprung nach vorne in Sachen Demokratie. 

Einen Sprung? Nein, das reicht natürlich nicht. Es braucht mindestens deren drei: nämlich – erstens – einen Partizipationssprung, sodass auch jene Einwohner:innen, die bislang noch kein Stimm- und Wahlrecht hatten, dieses erhalten und ausüben können, auf regionaler wie auf Landesebene. Anders gesagt: die Demokratie muss inklusiver werden, sodass die bereits vorhandenen direktdemokratischen Volksrechte – die es aktuell in 95 der 112Externer Link hier vertretenen Staaten gibt – von möglichsten vielen Menschen in diesen Staaten auch tatsächlich genutzt werden können.

Dann brauchen wir – zweitens – einen Innovationssprung. Digitales Wählen und Abstimmen muss möglich, die zunehmend amokartige Verbreitung von Fake-News in den sozialen Medien aber eingedämmt werden. Dazu dienen klare publizistische Verantwortlichkeiten und Investitionen in eine transparente und unabhängige Medien-Infrastruktur.

Und schliesslich ist es – drittens – höchste Zeit für einen demokratischen Globalisierungssprung: Denn unabhängig davon ob ich gerade zuhause die Reben zurechtschneide, in meinem Büro im Bundeshaus Ost ein Interview gebe oder auf einer Reise an einem Essensstand in Peking Halt mache, bin ich – und sind Sie alle – immer auch Teil einer politischen Gemeinschaft, in der viele grosse Fragen, wie das Klima, die Gesundheit und letztlich auch die Demokratie nur noch miteinander für die Zukunft fit gemacht werden können. 

Deshalb unterstütze ich den im Rahmen der UN75-KonsultationenExterner Link entwickelten Vorschlag einer WeltbürgerinitiativeExterner Link. Dieses neue Instrument soll es künftig einer Gruppe in der Grösse von mindestens fünf Millionen Menschen aus mindestens zehn UNO-Mitgliedsstaaten ermöglichen, der UNO-Generalversammlung oder dem Sicherheitsrat eine verbindliche Beschlussvorlage zu unterbreiten. 

Damit wird eine formelle demokratische Brücke geschlagen zwischen den Bürger:innen und den wichtigsten gemeinsamen Institutionen der Welt. So wie dies heute schon möglich ist auf der europäischen Ebene mit der Europäischen Bürger:innen-Initiative, mit dem Volksinitiativrecht in der Schweiz und in meinem Heimatkanton Waadt – oder mit der Möglichkeit, an der Gemeindeversammlung in Bursins das Wort zu ergreifen und Vorschläge zu machen, über die dann die Teilnehmenden abstimmen. 

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bin nun gespannt auf Ihre Vorschläge, wie wir die Demokratie in der Welt in den kommenden zwölf Monaten bis zum nächsten Weltdemokratiegipfel stärken können.

*Die Volksabstimmung mit der höchsten Zahl der eingegangenen Stimmen (Ja/Nein/Ungültig) war bislang die EWR-Abstimmung (Vorlage 388)Externer Link vom 6.12.1992 (3’580’094). Bei der Covid19-Abstimmung vom 28.11.2021 betrug diese Zahl (gemäss provisorischen ZahlenExterner Link, dh. ohne ungültige Stimmen) 3’583’654. [Quelle: BundeskanzleiExterner Link]

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