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Der helvetische “Braindrain”

Wer die Uni oder die ETH – im Bild Zürich – abgeschlossen hat, sucht in der Regel nicht in den Bergregionen Arbeit Keystone Archive

Nur wenige junge Leute, die die Bergregionen und Rand-Kantone fürs Studium in den Städten verlassen, kehren zurück.

Diese Abwanderung hat erhebliche wirtschaftliche Folgen. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete (SAB) schlägt Alarm.

Ein Beispiel aus dem Prättigau im Norden Graubündens: 83 Prozent aller Personen, die aus dieser Berggegend zum Studieren fortgegangen sind, sind nicht mehr in den Kanton zurückgekehrt. Sie haben an anderer Stelle Arbeit gefunden und sich dort ein Leben aufgebaut.

Das Phänomen kann man verschieden benennen: “Die Flucht der Intelligenz” oder “Migration von Kompetenzen”. Doch unabhängig von der Bezeichnung betrifft dieses Phänomen praktisch alle Kantone ohne eigene Universität.

Grund: Es stellt für die betroffenen Regionen ein Entwicklungshindernis dar. Jedes Jahr gehen rund 27 Mio. Franken in Ausbildung investierte Gelder verloren, weil Personen, die davon profitieren, nicht an ihren ursprünglichen Ort zurückkehren.

Das Problem ist nicht ganz neu. Weltweit wird seit Jahren über die Auswirkungen des so genannten “braindrain” gesprochen – der Abwanderung von Wissenschaftlern. Durch Emigration verlieren Entwicklungsländer einen guten Teil ihrer intellektuellen Elite – hochbegabte Studenten, Doktoranden oder Wissenschaftler. Deren Potential geht für das eigene Land verloren.

Tradition der Wanderungen

Auf Schweizer Ebene stellt der landesinterne “braindrain” vielleicht die vorläufig letzte Etappe von Wanderungsbewegungen dar, zu der die Migration der Walser im Mittelalter, die Emigration von Fachleuten zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Konditoren, Architekten oder Stuckateuren) sowie die Massenemigration nach Amerika im späten 19.Jahrhundert gehörte.

Über die vergangenen Migrationen gibt es mittlerweile etliche Studien, doch das Problem der Abwanderung von Wissenschaftlern ist noch kaum untersucht. Dies hat auch die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) erkannt, die vor kurzem eine Studie zum Thema vorgelegt hat.

“Wir wollten diese ‘Flucht der klugen Köpfe’ aus den Berggebieten einmal quantitativ erfassen”, sagt SAB-Direktor Thomas Egger gegenüber swissinfo. “Deshalb haben wir versucht, Daten vom Bundesamt für Statistik einzuholen. Doch wir kamen nicht sehr weit.” Mit anderen Worten: Es fehlt an systematischen Erhebungen zu diesem Phänomen.

Und doch bewegt sich etwas. Die SAB-Studie ist gemäss Egger zumindest ein erster Schritt, um die Öffentlichkeit für diese Problematik zu sensibilisieren. Und der Kanton Wallis hat mittlerweile ein Forschungsprogramm lanciert, um herauszufinden, warum zirka 70 Prozent der Walliser Studenten nach ihrem Lizenziat nicht mehr in den Heimatkanton zurückkehren.

Eine happige Rechnung

Die Folgen der Migration von hochqualifizierten Personen sind auch aus wirtschaftlicher Sicht bedeutend. Gemäss der SAB-Studie wenden Nicht-Hochschulkantone für die Uni-Ausbildung ihrer Studenten zwischen 9’500 und 46’000 Franken jährlich auf. Wegen des “braindrain” gehen 27 Mio. Franken dieser Investitionen pro Jahr verloren.

Dazu kommen mindestens weitere 27 Mio. Franken als Folge von Steuerausfällen und fehlender Konsumeinnahmen. Diese Rechnung beinhaltet weder die Stipendien noch die Kosten für die voruniversitäre Ausbildung.

“Diese Zahlen müssten Anlass geben, den Finanzausgleich sowie einige Bundesverordnungen zu überarbeiten”, meint Egger. “Die effektiven Kosten für die Abwanderung der Akademiker sind bis anhin unterschätzt worden.” Er sieht darin eine Botschaft an die Politik, aber auch an die Universitätskantone, die in den letzten Jahren stets versuchten, die Beiträge für Studenten aus Nicht-Hochschulkantonen anzuheben.

Gründe für den Abschied

Die SAB-Studie hat eruiert, dass gut 80 Prozent der Studiengänger bereit wären, in den Heimatkanton zurückzukehren, wenn sie dort eine adäquate Chance hätten. Aber warum geschieht dies nicht? “Der erste Grund ist rein ökonomischer Natur”, erklärt Egger. Wer zurückkehren wolle, finde häufig keinen Arbeitsplatz, welcher der erworbenen Qualifikation entspreche.

“Zweitens gibt es soziale Gründe, da während dem Universitätsstudium in der Regel Beziehungen eingegangen werden”, ergänzt er. Die Rückkehr in den Heimatkanton werde verhindert, wenn der Partner oder die Partnerin dies nicht wolle.

Neue Anreize schaffen

In Bezug auf letzteren Grund kann man von aussen kaum etwas verändern, aber in Bezug auf das erste Motiv schon. “Die Kantone müssen interessante Arbeitsplätze schaffen”, fordert der SAB-Direktor. “Dass dies nicht unmöglich ist, zeigen Initiativen wie das Zentrum für Kräuterheilkunde in Olivone im Tessin oder das Zentrum für Mikrotechnologie im Kanton Obwalden.”

Auch für Egger ist es in gewisser Weise normal, dass periphere Regionen Einwohner und “kluge Köpfe” verlieren, da diese in ökonomisch, industriell und kulturell entwickeltere Gebiete abwandern. “Aber man muss sich fragen, bis zu welchem Punkt dies ‘normal’ ist”, sagt er. Man könnte nicht akzeptieren, dass gemäss der eidgenössischen Regionalpolitik den Randregionen einzig Bedeutung für Landwirtschaft und Tourismus zugewiesen werde.

Wer in einer Randregion wohnt, will heute mehr als diese beiden Zweckbestimmungen. Dies gilt auch für all diejenigen, die fern der eigenen Heimat Arbeit gefunden haben. Es gibt eine gewisse Bereitschaft zurückzukehren – allerdings zu gewissen Bedingungen.

Deshalb werden Initiativen wie diejenige der SBB begrüsst, die ihr Contact-Center nach Brig-Glis verlagert haben. Und dies im Wissen, dass sie keine Mühe haben werden, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden.

swissinfo, Doris Lucini

Drei Viertel aller Hochschulabgänger aus Bergregionen kehren nicht dorthin zurück.
Diese Kantone investieren aber 27 Mio. Franken pro Jahr in deren Hochschul-Ausbildung.

Die Abwanderung von Wissenschaftlern und “klugen Köpfen” – auf Englisch “braindrain” – gibt es auch in der Schweiz. Wer aus Rand- und Berggebieten kommt und eine Universitätsausbildung beendet, kehrt selten in den Heimatkanton zurück.

Die Berggebiete haben dabei das doppelte Nachsehen: Einerseits gibt es finanzielle Verluste. Anderseits wirkt sich dies negativ auf die Entwicklungs-Möglichkeiten der Randgebiete aus.

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