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Die Schweiz – ein Vorbild für die Ukraine

Inna Pidluska: "Die jungen Leute in der Ukraine sind optimistisch." swissinfo.ch

Die Schweiz unterstützt die Ukraine auf ihrem Reformkurs zur Demokratie und bei der Annäherung an die europäischen Institutionen.

Doch wie sieht man die Wandlungen in der Ukraine, wie das Verhältnis zu Europa und der Schweiz – ein swissinfo-Gespräch mit Inna Pidluska, Präsidentin der Stiftung “Europa XXI”.

Kürzlich hat die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) gemeinsam mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) in Lugano die Jahreskonferenz “Focus Osteuropa” organisiert. Dabei war die Ukraine Schwerpunktthema.

Die Referenten unterstrichen generell die positiven Aspekte der “orangen Revolution”, die im November 2004 zu einem Machtwechsel führte. Doch der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch berichtete auch von einer gewissen Enttäuschung, die sich in der Bevölkerung breit mache, nachdem sich die neuen Machthaber unter Präsident Viktor Juschtschenko bereits zerstritten haben.

swissinfo sprach mit der Journalistin und Politikwissenschafterin Inna Pidluska, Präsidentin der ukrainischen Stiftung “Europa XXI”. Es handelt sich um eine 1998 gegründete Nichtregierungs-Organisation, die den Übergang der Ukraine zu einer Demokratie und die europäische Integration fördert.

swissinfo: Wie fällt Ihre Bilanz ein Jahr nach der “orangen Revolution” aus?

Inna Pidluska: Es gab eindeutig einen positiven Wandel. Die Leute stellen heute Entwicklungen in Frage, verlangen danach, in Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden und fordern Transparenz bei Politikern. Dieser Wandel geht aber leider nicht ganz so schnell vor sich, wie wir hofften.

swissinfo: Wurde der Wandel durch die Entlassung von Regierungschefin Julia Timoschenko gebremst?

I.P.: Natürlich gab es auch einige Enttäuschungen in Hinsicht auf die neue Regierung, doch die Dynamik ist generell positiv. Immerhin haben wir eine Opposition, die sich frei äussern kann. Und wir haben eine freie Presse. Vor allem ist die Apathie überwunden. Denn Apathie ist das Schlimmste.

swissinfo: Es gibt aber auch viele Ukrainer, die alten Zeiten hinterher trauern. Unter den Sowjets hätten alle Arbeit gehabt, es hätte mehr Sicherheit gegeben.

I.P.: Ich stelle da ein Generationenproblem fest. Leute bis zu 40 Jahren sind im Allgemeinen sehr optimistisch. Sie setzen auf die Integration in die EU, sie entwickeln Eigeninitiative und erwarten nicht von der Regierung, dass diese ihnen Entscheide abnimmt.

Leute, die älter als 40 oder 50 Jahre sind, zeigen sich eher nostalgisch und verklären die Vergangenheit. Sie klagen über verlorene Sicherheit und mangelnde Stabilität. Natürlich ist es für diese Menschen schwieriger, sich den neuen Regeln anzupassen, zumal die Ukraine noch über keine sozialen Sicherungssysteme verfügt.

swissinfo: Was sagen Sie diesen Menschen?

I.P.: Der Blick zurück führt ins Nichts. Es gibt keine Sowjetunion mehr. Und Russland ist nicht die Sowjetunion. Auch eine Integration ins heutige Russland brächte keine Vorteile. Denn Russland entwickelt sich in eine ähnliche Richtung wie die ehemaligen Sowjetrepubliken.

swissinfo: Das heisst, die Zukunft der Ukraine liegt in Europa?

I.P.: Auf alle Fälle. Es muss eine starke Annäherung an die europäischen Institutionen im Sinne einer engen Partnerschaft geben, nicht unbedingt eine Vollmitgliedschaft in der EU. Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft stellt allerdings einen wichtigen Impuls für Politiker in der Ukraine dar, an der europäischen Integration zu arbeiten.

swissinfo: Gelegentlich ist auch von einem Schweizer Modell für die Ukraine die Rede.

I.P.: Die Schweiz wird immer wieder erwähnt, weil sie eine prosperierende Wirtschaft, ein vorbildliches Regierungssystem mit Volksbeteiligung sowie eine Nähe zu den europäischen Institutionen hat.

Es ist für die Ukraine aber schwierig, die Schweiz gesamthaft als Vorbild zu nehmen. Die Unterschiede im Lebensstandard sind zu gross.

Vor allem hat die Schweiz – im Gegensatz zur Ukraine – keine Erfahrung mit einer zentralistischen und bürokratischen Staatsmaschinerie. Der Einbezug des Volkes in die politische Entscheidungsfindung nach Schweizer Modell wäre ein extremer Wandel.

swissinfo: Wovon können Sie denn in erster Linie lernen?

I.P.: Die Erfahrung der Schweiz bei der Regierungsführung und die Dezentralisierung ist für uns extrem wichtig, auch der Umgang mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, wie er in der Schweiz praktiziert wird. Die Unterschiede dürfen nicht als etwas Trennendes wahrgenommen werden, sondern müssen als Bereicherung erfahren werden.

swissinfo: Wie wichtig ist das Engagement der Schweiz in der Ukraine?

I.P.: Es gibt sehr wichtige Projekte, deren grosser Vorteil darin liegt, dass sie nahe an den Menschen sind. Sie erlauben, einem gewöhnlichen Ukrainer zu sehen, was er erreichen kann, wenn er bei solchen Projekten mitmacht.

Es sind sehr nützliche Projekte in Bezug auf die Bildung von Gemeinschaften. Denn sie zeigen, was Eigeninitiative auslösen kann.

swissinfo-Interview: Gerhard Lob, Lugano

1995 unterzeichneten die Schweiz und die Ukraine diverse Wirtschafts-Abkommen.
2005 engagiert sich die Schweiz mit 8,8 Mio Franken in der Ukraine.
Zwischen 1994 und 2005 beträgt das Total des Engagements der schweizerischen Zusammenarbeit in der Ukraine 84,9 Mio. Franken.
Mit einer Investitionsquote von 4,3% rangiert die Schweiz auf Rang 8 unter den Investoren in der Ukraine.
Bevölkerung Ukraine: 50 Millionen
Bevölkerung Schweiz: 7 Millionen

Die Schweiz will der Ukraine bei der Annäherung an die europäischen Institutionen helfen, sagte Aussen-Ministerin Micheline Calmy-Rey an einer Konferenz in Lugano.

Auf diese Weise könne die Eidgenossenschaft zur langfristigen Stabilisierung Osteuropas beitragen.

In der Ukraine schaut man nach der “orangen Revolution” immer deutlicher nach Europa. Präsident Viktor Juschtschenko strebt mittels radikaler Reformen langfristig einen EU-Beitritt an.

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