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Die Schweiz als Modell für Europa?

Adolf Muschg, Europa und die Schweiz. Keystone

Die EU steckt in einer Krise: Der politische Konsens über die Zukunft der Europäischen Union ist auseinandergebrochen.

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg erklärt im Gespräch, warum die EU sinnvoll ist, was von Volksentscheiden zu halten ist und weshalb die Politiker nicht so wollen, wie sie könnten.

Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise, auch wenn der Alltag vorerst normal weiterläuft. Nach den negativen Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung folgte der an Finanz-Fragen gescheiterte EU-Gipfel. Wie weiter nun, fragt man sich vielenorts.

In einem Interview mit der Online-Redaktion der Deutschen Welle (DW-Online) äussert sich der Schweizer Autor Muschg unter anderem zur Frage, ob die Schweiz Europa brauche – oder Europa die Schweiz.

Die EU-Verfassung liegt auf Eis, der Streit ums Geld geht weiter, ob ausgerechnet Tony Blair als Ratspräsident die Krise lösen kann, ist offen: Hat Europa noch eine Zukunft?

Adolf Muschg: Wenn man Europa mit einem grossen Schiff vergleicht, das hoffentlich einigermassen unsinkbar ist, dann passiert im Augenblick etwas ungemein Normales: Das, was wir jetzt Europa ankreiden und wofür wir Europa als Sündenbock verwenden, ist die Erfahrung der Grenze der nationalen Politiken.

Die Probleme sind im Augenblick grösser als die Möglichkeiten jeder politischen Regierung, sie zu lösen. Europa ist nicht die einzige Antwort auf die Globalisierung, aber sie ist eine, wo man das Problem eingrenzen kann und wo man lernen kann, sich kooperativ zu verhalten.

Voneinander lernen, das muss eine grenzüberschreitende Hauptbeschäftigung in Europa werden. Wir haben doch eine wunderbare Auswahl zwischen so und sovielen nationalen Traditionen, die wir testen können im Hinblick auf die gemeinsame Anwendbarkeit in einem grösseren Raum.

Hat Europa demzufolge keine allgemeine Sinn- und Strukturkrise, sondern ist lediglich an einem Punkt angekommen, an dem es sich für die eine oder andere Richtung entscheiden muss?

A.M.: Ja, und darum nenne ich das gerne ein kulturelles Projekt, denn Europa ist mit den Mitteln der ökonomischen Lehre nicht definierbar – die ist Teil des Problems, das sie zu lösen behauptet. Wenn es darum geht, Europa als geschichtlich-historische Körperschaft zu definieren, dann muss man anders vorgehen. Da meine ich, dass das, was wir “Kultur” nennen, wieder als Wurzel erkennbar sein muss.

In diesem Zusammenhang wird die Schweiz gerne als Modell präsentiert, wie unterschiedliche Kulturen, Sprachgruppen und Religionen friedlich nebeneinander leben können: Was sollte Europa von der Schweiz lernen?

A.M.: Ich bin weit entfernt, die Schweiz als Modell für Europa zu empfehlen. Wenn man die Schweiz näher ansieht, dann sieht das alles nicht mehr so glänzend aus. Die Kohärenz des Staates war sehr viel grösser während der zwei Weltkriege, wo die Schweiz als “Insel” mit dem Rücken zur übrigen Welt stand und versuchte, sich diesen Rücken freizuhalten.

Das Prinzip, dass man den Minderheiten fast reflexartig eine grössere Vertretung einräumt in den repräsentativen Körperschaften oder auch das Subsidiaritätsprinzip, wonach die Gemeinde eine viel höhere Autonomie geniesst als in Deutschland – das ist interner Wettbewerb.

Und es braucht ungemein wenig Patriotismus dazu, das ist alles nicht nötig. Es geht sogar ohne die SwissAir, was die Schweizer besonders wenig geglaubt haben. Jetzt gehört die Nachfolgerin Swiss der Lufthansa – aber die Schweiz ist kein bisschen untergegangen.

A.M.: Auch die Schweizer selber kramen immer wieder die Schweiz-Mythen hervor, wenn sie jemandem erklären sollen, was die Stärke ihres Systems ist. Bei Europa ist das anders: Ist Europa vielleicht zu weit weg von den Bürgern, zu wenig demokratisch?

A.M.: Das mit dem Regieren des Volkes ist auch so ein Teil der Schweizer Mythologie. Man darf nicht vergessen, dass die direkten Volksrechte, bei denen die Schweiz so tut, als hätte sie sie seit 1000 Jahren, ein spätes Produkt des 19. Jahrhunderts sind.

Zugleich ist in einer Mediengesellschaft der so genannte “Volkswille” enorm quotenverdächtig und kann enorm gesteuert werden. Das ist ja die grosse Angst in Deutschland, dass man nichts vors Volk zu bringen wagt. Ich bin hin und her gerissen – aber ich meine, dass eine gut funktionierende repräsentative Demokratie mit hinreichenden Alternativen für ein grosses Land die richtigere Form ist als eine plebiszitäre Demokratie.

Sollte Europa deshalb auf Volksentscheide verzichten?

A.M.: Es sollte auch in Europa plebiszitäre Elemente geben, aber ich fürchte, wenn man die Leute überall über die Verfassung abstimmen liesse, dann wäre das “Nein” in einer starken Mehrheit. Da muss man sich an den Satz Schillers erinnern:

Was ist die Mehrheit?
Mehrheit ist der Unsinn.
Klugheit ist stets bei wenigen nur gewesen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen.
(aus: “Demetrius”)

Heute haben wir keine wirkliche Demo-kratie, wir haben eine Demo-skopie: Die Politiker lassen sich von den Meinungsforschern sagen, welche Themen sie besetzen und nicht besetzen sollen. Das ist genau das Gegenteil dessen, was man unter Politik verstehen könnte.

Glücklichweise sind die Politiker in der Schweiz derzeit noch sehr viel weniger medienabhängig als die der grossen Länder. Die Kleinheit der Schweiz ist da eine ganz grosse Chance.

Braucht die Schweiz Europa und – umgekehrt – Europa die Schweiz?

A.M.: Sie brauchen einander längst. Es gibt in der Schweiz dafür den Terminus “autonomer Nachvollzug”, das ist zwar ein Widerspruch in sich – entweder ist man autonom oder man vollzieht nach – aber trotzdem ist das sinnvoll: Der “Europa-Bürger” ist genauso verbindlich für die Schweiz, ob das jetzt in ein gemeinsames Vertragswerk gegossen ist oder nicht.

Die Manöverfreiheit, die sich die Schweiz gerne einredet, nämlich, dass sie sich ungehindert von den EU-Bestimmungen ein bisschen mehr nach Amerika und nach China orientieren kann, das spricht für die schweizerische Pfiffigkeit. Und genau dazu raten den Schweizern vor allem die EU-Kollegen. Denn die sind immer wieder dankbar für die Schweiz als “Freihafen” für ihre Geschäfte. Neutralität ist ein gutes Geschäftsprinzip.

Aber irgendwann müssen die Schweizer über ihren Schatten springen und sagen: Wir müssen für dieses Europa, von dem wir so viel haben, auch mal selber etwas tun. Dieser Gedanke ist noch unendlich weit entfernt – aber damit ist die Schweiz nicht allein.

Interview: Ingun Arnold
© DW-Online

Adolf Muschg gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Gegenwarts-Literatur.
Seit 1976 ist der Schweizer Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, seit 2003 deren Präsident.
Muschg lebt in der Nähe von Zürich.

Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 in Zollikon ZH geboren.
Er studierte Germanistik, Anglistik und Psychologie.
Nach der Dissertation arbeitete er drei Jahre als Lehrer, danach dozierte er an Universitäten in Tokio, Göttingen, Ithaca (New York) und Genf.
1970 bis 1999 war er ausserordentlicher Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich.
Seit Mai 2003 ist er Präsident der Akademie der Künste in Berlin.

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