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Die Schweiz tut sich schwer im Umgang mit Raubkunst

Ein britischer Offizier untersucht von Nazis gestohlene Kunstgegenstände in einem Keller bei Wewelsburg, Deutschland. Keystone

Auch wenn die Schweiz vor zehn Jahren internationale Standards über die Rückgabe von Raubkunst aus der Zeit des Holocaust unterzeichnet hat, hinkt sie im Aufspüren von Kulturgütern, die jüdischen Familien im Zweiten Weltkrieg weggenommen wurden, hinterher.

Letzte Woche fand in Berlin ein zweitägiger Kongress zum Thema NS-Raubkunst statt. Unter dem Motto “Verantwortung übernehmen” trafen sich 300 Experten aus aller Welt.

Anlass war der zehnte Jahrestag der so genannten Washingtoner Erklärung, mit der sich 44 Staaten, darunter auch die Schweiz, zu einer “gerechten und fairen Lösung” bei der Rückgabe geraubten Kulturguts verpflichtet hatten.

Die Schweiz tut zwar einiges, um Raubkunst aufzuspüren: Zu diesem Zweck wurde 1999 die Fachstelle Raubkunst im Bundesamt für Kultur (BAK) geschaffen.

Es sei aber nicht so, dass das Thema Raubkunst gelöst sei, sagt Benno Widmer, der Leiter der Fachstelle, der die Schweiz am Kongress vertreten hat.

“Es gibt noch immer an verschiedenen Orten gestohlene Kulturgüter”, so Widmer. Seit die Schweiz die Washingtoner Erklärung unterzeichnet habe, hätten die Behörden in Bern “eine aktive Rolle gespielt”.

“Wir wissen, dass kulturelles Eigentum jüdischen Menschen in von den Nazis besetzten oder regierten Staaten systematisch entwendet worden sei. Und manchmal landeten diese gestohlenen Kulturgüter auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz”, so Widmer.

Mitte der 1990er-Jahren kam die Schweiz im Zusammenhang mit der Debatte um nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken in Verruf. 1998 bezahlten Schweizer Banken 1,25 Milliarden Dollar in einem Vergleich an die Nachkommen der Konteninhaber.

Lockere Regeln

Kunstgegenstände, die sich ausserhalb der Institutionen des Bundes befinden, zum Beispiel in kantonalen oder privaten Sammlungen, werden weniger konsequent gehandhabt.

Die Sorgfaltspflicht, die für Händler und Auktionäre gilt, ist bedeutend tiefer. Private Sammler bewegen sich ausserhalb des geltenden Rechts, es sei denn, es kommt zu einer Transaktion.

“Die Schweiz ist ein wichtiger Platz für den Kunsthandel”, sagt Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) sowie Anwalt und Experte für nachrichtenlose Vermögen.

“Ich gehe davon aus, dass es in der Schweiz zu vielen Regelwidrigkeiten kam und es viel Raubkunst gab und vermutlich noch immer gibt.”

Die Washingtoner Konferenz habe das Bewusstsein in dieser Frage geschärft. Einige Schweizer Museen hätten “bemerkenswerte” Anstrengungen unternommen, um gestohlene Kunstgegenstände in ihren Sammlungen zu identifizieren.

“Die Fortschritte, die gemacht wurden, sind jedoch nicht sehr beachtlich”, sagte er gegenüber swissinfo.

Das schweizerische Kulturgütertransfer-Gesetz, das Mitte 2005 in Kraft trat, ist laut Winter eher ein Überwachungsorgan als eine Vollzugsbehörde.

“Gute Absichten”

“Das Geld für gründliche Recherchen in Sammlungen, die den Kantonen gehören, scheint zu fehlen. Das Bundesamt für Kultur hat sicherlich gute Absichten, aber nur sehr begrenzte Kompetenzen”, sagt Winter.

Laut Benno Widmer von der Fachstelle Raubkunst basiert das Schweizer System auf den drei Pfeilern Transparenz, Rechtsmässigkeit und Angemessenheit. Er gab jedoch zu, dass es schwierig sei, die Massnahmen erfolgreich umzusetzen.

“Wir sind offen für Vorschläge und neue Lösungen. Wenn die Suche nach Raubkunst wirklich intensiviert werden soll, muss das Gesetz geändert und eine Meldepflicht eingeführt werden. Wer Kunstgegenstände besitzt, von denen er weiss oder annimmt, dass sie in der Vergangenheit gestohlen wurden, müsste dann die Behörden informieren”, erklärt Winter.

“Ich könnte mir vorstellen, dass vermehrt Raubkunst auftauchen würde, wenn der Verstoss gegen eine solche Meldepflicht bestraft würde. Ich habe jedoch keine Kenntnis darüber, dass Schritte in diese Richtung im Gang sind.”

Das Bundesamt für Kultur hatte signalisiert, es sei interessiert daran, Raubkunst auf dieselbe Weise zu bekämpfen wie die Geldwäscherei. Eine Behörde könne jedoch wenig ausrichten, wenn dazu die nötige Gesetzgebung fehle.

“Soll das Gesetz geändert werden, muss der Gesetzgeber den Auftrag dazu erteilen”, sagt Widmer.

swissinfo, Justin Häne
(Übertragung und Adapition aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

Während jüdische Organisationen Erfolge bei der Rückgabe von gestohlenen Kunstwerken aus Deutschland verbuchen, sieht das Schicksal der von sowjetischen Truppen geplünderten Artefakte weniger optimistisch aus.

Die russische Regierung hat nicht die gleichen Grundsätze festgelegt wie Deutschland.

Der Prozess, geraubte Kulturgüter zurückzuführen, kann Generationen dauern.

Erst vor drei Jahren fand ein über 200-jähriger Disput in der Schweiz sein Ende: Zürcher Truppen hatten Kunstgegenstände aus einem Kloster in St. Gallen geraubt.

Im Dezember 1998 haben 44 Staaten die Washingtoner Erklärung über Holocaust-Raubkunst unterzeichnet.

Die Konferenz über NS-Raubkunst in Berlin fand zum zehnjährigen Bestehen der Washingtoner Erklärung statt.

Rund 300 Wissenschafter, Anwälte, Politiker und Vertreter von jüdischen Organisationen tauschten dabei Ideen aus.

Die vom deutschen Kulturministerium organisierte Konferenz beschäftigte sich mit Themen wie der Rückgabe von Kulturgütern, der Forschung und einer “gerechten und fairen Lösung”.

Die “Conference on Jewish Material Claims Against Germany” verhandelt über und verteilt Zahlungen von Regierungen und Unternehmen betreffend Raubkunst.

Sie spürt nicht beanspruchte jüdische Besitztümer in deutscher Hand auf und finanziert Programme, die jüdische Opfer des Nazi-Regimes unterstützen.

Die Konferenz wurde 1951 von 23 US-amerikanischen und internationalen jüdischen Organisationen in New York gegründet.

Über 500’000 Überlebende des Holocaust in 75 Ländern haben laut der Organisation Abfindungen im Umfang von über 60 Mrd. Dollar erhalten.

Etwa 1 Mrd. Dollar wurde in soziale Programme für Holocaust-Überlebende sowie in Forschung und Bildung investiert.

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