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Ein ganz und gar nicht normales Dorf

Aigues-Vertes befähigt geistig Behinderte zu beruflicher Tätigkeit. swissinfo.ch

Auf den ersten Blick sieht Aigues-Vertes aus wie jede Siedlung aus den 60er-Jahren. Die 84-köpfige Gemeinde ist aber etwas Besonderes, denn sie besteht aus geistig behinderten Menschen.

Es ist ein Projekt mit Modellcharakter.

Es ist ein einmaliges Projekt bei Bernex in der Region Genf. Ziel von Aigues-Vertes ist es, die Unabhängigkeit von geistig behinderten Personen zu fördern – indem ihnen eine Arbeit gegeben wird und sie zur Selbständigkeit ermutigt werden.

Das Dorf gruppiert sich um einen Bauernhof. Es gehören 11 Wohngemeinschaften und vier Werkstätten dazu – zudem eine Bäckerei, ein Lebensmittel-Geschäft und eine Kirche. Das Dorf hat sogar eine tägliche Busverbindung.

Ein Grossteil der Frauen und Männer zwischen 19 und 82 Jahren leben in Aigues-Vertes, dazu kommen einige, welche hier eine Tagesstruktur finden. Am häufigsten sind die Personen vom Down Syndrom oder Autismus betroffen.

Betreut und in ihrer Arbeit unterstützt werden sie von insgesamt 120 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.

Brot und Torten

Die Bäckerei verkauft Croissants, Brot und Kuchen – alles gebacken von Dorfbewohnern. Nicht nur das Dorf kauft hier ein, sondern es gibt auch Bestellungen von ausserhalb. Beim Besuch von swissinfo sind acht Personen an der Arbeit, darunter ein Bäcker-Sozialarbeiter.

Arnold, ursprünglich aus dem Kongo stammend, konzentriert sich auf seine “Pains au chocolat”. Sorgfältig schneidet er den Teig und fügt anschliessend die Schokoladeplättchen hinzu.

“Ich mag es besonders, die verschiedenen Brote und Croissants zu machen”, erzählt Arnold.

“Ich habe auch gelernt, verschiedene Torten zu backen, beispielsweise Schwarzwälder-Torte oder Mille feuilles. So kann ich meinem Bruder zum Geburtstag eine Überraschung bereiten, anstatt dass meine Eltern einen Kuchen in der Migros kaufen.”

Serge Bednarczyk, der Direktor von Aigues-Vertes, ist zufrieden mit den Fortschritten, die Arnold erzielt hat.

Arnold gehört zu denjenigen, die bloss tagsüber im Dorf arbeiten. Bednarczyk erinnert sich: “Zu Beginn konnte er überhaupt nichts machen. Jetzt kann er selbständig arbeiten. Das ist genau das, was wir wollen: Unabhängigkeit.”

Kein Leistungsdruck

Auf dem Bauernhof im Zentrum des Dorfes arbeiten 25 Personen. Zum Hof gehören verschiedene Tiere: Rinder für die Fleischproduktion, Esel und Pferde, zudem Enten und Hühner.

Obschon auch Gemüse angebaut wird, ist das Dorf noch nicht ganz fähig, sich selber zu versorgen.

Der Arbeitstag beginnt morgens um neun und endet nachmittags um fünf wie normale Arbeitstage auch. Wer arbeitet, bekommt auch einen Lohn.

Doch Bednarczyk betont immer wieder, dass es nicht darum gehe, wie viel jede und jeder produziere, sondern darum, wie sie das machten. Denn es brauche lange, bis geistig Behinderte einen Arbeitsablauf eingeübt hätten. Zudem könnten sie meist nur eine einzige Aufgabe gründlich lernen.

Dennoch: Immer wieder gebe es auch Überraschungen. “Einer der Mitarbeiter ist fähig, den Traktor rund ums Haus zu fahren. Das ist fantastisch. Er ist darauf auch sehr stolz.”

Unabhängigkeit

Der Stolz der Bewohnerinnen und Bewohner auf ihre Arbeit begegnet einem im ganzen Dorf. Nicole beispielsweise versorgt die Kaninchen und Rinder des Hofes.

“Ich liebe meine Arbeit auf dem Bauernhof. Ich liebe Tiere und ich hätte keine Lust, den ganzen Tag in einem Atelier zu sitzen. Ich bin lieber draussen”, erzählt sie.

“Ich bin die einzige Frau hier doch meine Freunde schauen gut zu mir. Auch wenn es schon einige gibt, welche finden, das sei keine Arbeit für eine Frau.”

Unabhängig zu sein ist für Nicole sehr wichtig. Neben ihrer Arbeit auf dem Bauernhof lebt sie mit drei weiteren behinderten Menschen zusammen. Zurzeit ist sie daran, kochen zu lernen – das sei ihr wichtig, betont sie.

“Am Abend koche ich selber. Ich versuche, eine Diät einzuhalten und esse viel Gemüse. Am liebsten habe ich Teigwaren, doch ich habe damit aufgehört, weil sie dick machen.”

Nicht alle Bewohner sind so unabhängig wie Nicole. Es gibt in Aigues-Vertes auch eine Werkstatt, wo Kerzen und Papier hergestellt werden. Dort arbeiten Behinderte, die nicht auf dem Hof oder in der Bäckerei eingesetzt werden können. In einem anderen Atelier wird gewebt und genäht.

Spezielle Umgebung

Die Idee für die Gemeinschaft entstand in 1960: Einige Eltern von behinderten Kindern sorgten sich um deren Zukunft. Und sie fragten eine Gruppe von Anthroposophen, ihnen bei der Gründung des Dorfes zu helfen.

Damals sei die einzige Alternative für geistig behinderte Menschen ein Spital oder eine Anstalt gewesen, erinnert Direktor Bednarczyk. Die Idee war, den Behinderten eine gewisse Freiheit und die Fähigkeit zu geben, sich durch die Beziehung zu den Tieren und zu anderen Menschen zu entwickeln.

Als ein Beleg für die Wirkung der Umgebung auf die Menschen weist Bednarczyk auf die gestiegene Lebenserwartung hin: Diese habe von etwa 40 auf rund 80 Jahre zugenommen. Die älteste Person in Aigues-Vertes ist zurzeit 82 Jahre alt.

“Sobald man aufhört, sich zu entfalten, beginnt man zu sterben. Und das ist für mich und alle im Dorf nicht akzeptabel.”

Trotz der warmen und freundlichen Atmosphäre von Aigues-Vertes stossen die Betreuungs-Personen auch auf Probleme mit den Bewohnern.

Es sei eine Gratwanderung zwischen Herausforderung und Überforderung, sagt auch Bednarczyk. “Wenn sie über ihre Grenzen führt, werden sie frustriert und deprimiert.”

Künftige Entwicklung

Wegen dem Erfolg des Konzepts sieht Bednarczyk Aigues-Vertes als europaweites Modell für die soziale Reintegration von geistig behinderten Menschen.

Eine Erneuerung ist als nächstes geplant: Für 64 Mio. Franken sollen das Bauernhaus und später weitere Gebäude renoviert werden. Das Geld kommt von nationalen und kantonalen Behörden wie auch von privaten Spendern.

Auch der Bau eines Pflegeheims ist vorgesehen, damit die Bewohnerinnen und Bewohner ihre alten Tage in der Gemeinschaft verbringen können. Nach Abschluss der Renovation werden 2010 etwa 30 Personen mehr in Aigues-Vertes Platz finden.

2003, im Europäischen Jahr der Behinderten, will Bednarczyk in Brüssel die Bildung von Arbeitsgruppen anregen, die sich mit der Verbesserung der Lebensqualität von Behinderten befassen.

“Wir wollen die Vorstellungen der Leute ändern”, so Bednarczyk. “Häufig betrachtet man Behinderte als Menschen, die vollständig anders sind als wir. Doch sie sind wie wir, sie gehören zu uns.”

swissinfo, Isobel Johnson
(Übersetzung aus dem Englischen: Eva Herrmann)

1960 Gründung der Stiftung Aigues-Vertes
84 Behinderte leben im Dorf, unterstützt von 120 Betreuungs-Personen

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