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Familie oder Verein? Die Vorlieben der Schweizer

Im Tessin sind Familie und Freundschaft wichtigere Werte als Verein und Freiwillige Arbeit. Keystone

Für die lateinische Schweiz sind Familie und Freundschaft wichtige Werte. Die Deutschschweiz hingegen hält Vereine und Freiwilligkeit hoch.

Diese Stereotypen sind bekannt. Die Studie “Freiwilligkeit als soziales Kapital der Gesellschaft unter den Schweizer Kantonen” bestätigt deren Gültigkeit.

Im Fokus der Studie über das gesellschaftliche Verhalten der Schweizer steht bei der Studie das Konzept des “Sozialen Kapitals” – in den vergangenen Jahren sehr im Trend bei den Gesellschaftswissenschaften. Das Sozialkapital lässt sich definieren als Miteinander von Institutionen, sozialen Normen und Beziehungsnetzen, die das Verhalten täglich bestimmen.

Gleichzeitig gilt das Sozialkapital als Ressource für die Produktion von Wohlbefinden. Sogar die Weltbank hat den Wert des Sozialkapitals erkannt. Sie sieht in ihm ein wichtiges Instrument der Wirtschaftspolitik, um Armut zu bekämpfen.

Unterschiede zwischen den Kantonen

In seiner vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Arbeit untersucht Markus Freitag von der Humboldt-Universität Berlin – in Zusammenarbeit mit der Universität Bern – die Basis der sozialen Beziehungen in den einzelnen Kantonen der Schweiz.

Die Resultate zeigen, dass zwischen den lateinischen und deutschsprachigen Kantonen in diesem Bereich grosse Unterschiede bestehen. In Vereinen des öffentlichen Lebens beispielsweise sind nur 37% der befragten Genfer und 38% der Tessiner engagiert.

Jedoch machen im Kanton Uri 69% der Befragten in Vereinen mit. Diese Vorliebe für Vereine gilt im weiteren für die gesamte Zentralschweiz.

Das Tessin wiederum führt die Liste jener Kantone an, in denen die Familienbande als wichtig erachtet werden. In keinem anderen Kanton bewegen sich die Einwohner und Einwohnerinnen derart oft im Umkreis der Familie.

Dieser familienmässigen Anbindung weichen Luzerner und Appenzeller am häufigsten aus.

Auch was die Freundesbeziehungen betrifft, zeigen sich die “Lateiner” als besonders offen. In Genf, Wallis und im Tessin sind die Kontakte mit Freunden besonders verbreitet.

Am wenigsten oft werden die Freundschaften in Bern und Schaffhausen gepflegt.

Die fünf Welten des Schweizer Sozialkapitals

Aufgrund der Befragungsangaben hat Markus Freitag die “fünf Welten des Sozialkapitals” in der Schweiz zusammen gestellt.

Die “erste Welt”, respektive Gruppe, ist zusammengesetzt aus den lateinischen Kantonen Waadt, Wallis, Neuenburg, Genf, Tessin und Freiburg. Sie zeichnet sich aus durch einen hohen Grad an Sozialkapital in den Bereichen Familie und Freundschaft.

In einer zweiten Gruppe befinden sich Nid- und Obwalden, Uri, Zug und Graubünden. Hier herrscht ein sehr hoher Grad an Vereins-Sozialkapital. In der dritten Gruppe, die Appenzell Ausserrhoden und Glarus umfasst, ist das Sozialkapital im Bereich der Nachbarschafts-Beziehungen stark.

Starker Einfluss der Nachbarländer

Vergleichsweise arm an sozialem Kapital jeglicher Art sind Basel-Stadt, Schaffhausen, Thurgau und Zürich als vierte Gruppierung. Und in der fünften Gruppe wiederum zeichnet sich das soziale Kapital vor allem in starken Beziehungen unter Arbeitskollegen aus. Diese Gruppe umfasst den Aargau, Basel-Land, Bern, Luzern, Solothurn, St. Gallen und Schwyz.

In einem ersten Erklärungsversuch unterscheidet der Soziologe Markus Freitag zwischen politischen, kulturellen und geografischen Faktoren. “Die Werte, Neigungen und Normen der verschiedenen Kulturkreise an den Grenzen zur Schweiz übertragen sich auch auf die entsprechenden Schweizer Sprachregionen und beeinflussen die dortige soziale Kultur der Gesellschaft”, sagt Freitag.

So ist hinlänglich bekannt, dass in der lateinischen Welt Familienbeziehungen und Freundschaften einen hohen symbolischen Wert geniessen.

Religion und direkte Demokratie

Doch um den Fall der Schweizer Wirklichkeit besser analysieren zu können, müsse man drei weitere Faktoren miteinbeziehen, in erster Linie den Religionsaspekt.

So ist in den vornehmlich katholisch geprägten Kantonen das Interesse für freiwillige Vereine und gesellschaftliches Mitmachen besonders ausgeprägt.

In zweiter Linie ins Gewicht fällt auch der Aspekt der direkten Demokratie. Jene Kantone mit hoher Referendums- und Volksinitiativen-Dichte weisen auch eine hohe Priorität für das Vereinsleben aus.

Drittens schliesslich gilt auch der geografische Aspekt: In den ländlich geprägten Regionen ist die gesellschaftliche Integration stärker entwickelt als in den urbanen Zentren.

So erklärt laut Freitag die Kombination dieser drei Aspekte, weshalb in der Zentralschweiz das soziale Kapital derart viel stärker entwickelt ist als in anderen Regionen des Landes.

swissinfo, Nenad Stojanovic
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

Nur 38% der Tessiner sind im Vergleich zu 69% der Urner in Vereinigungen und Vereinen engagiert.

Im Tessin verfügt die Bevölkerung über die stärksten Bindungen familiärer Art.

Die Zentralschweiz besitzt im schweizerischen Vergleich ein sehr hohes Sozialkapital.

Innerhalb der Schweizer Kantone bestehen grosse Unterschiede bezüglich der Beständigkeit und Art der gesellschaftlichen Bindungen.
In den lateinisch geprägten Kantonen überwiegen die Bindungen an Familie und Freunde. In der Deutschschweiz hingegen ist das Mitmachen in Vereinigungen verbreitet.
Die Unterschiede gehen vor allem auf sprachlich-kulturelle Eigenschaften, aber auch auf regionale, direkt-demokratische und Stadt/Land-Aspekte zurück.

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