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Faszination China auf Russisch

Ein Chinesisch-Studium ist eigentlich schon exotisch genug. Nicht aber für die Bernerin Natascha Cerny. Sie ist nach Moskau gezogen, um Chinesisch zu studieren.

Nur so konnte sie all das, was sie liebt und interessiert, unter einen Hut bringen.

Sechs Quadratmeter gross ist Natascha Cernys Zimmer im Wohnheim im Gebäude der riesigen Staatlichen Moskauer Uni (MGU). 40’000 Studierende sind eingeschrieben, 12’000 von ihnen leben im Mikrokosmos Universität.

“Es ist zwar extrem eng, aber ich fühle mich hier mittlerweile sehr wohl. Ein Beweis dafür, dass man sich an einiges gewöhnen kann, wenn man will”, sagt Natascha gegenüber swissinfo und lächelt verschmitzt.

Vorerst Spanisch statt Russisch

Am Gymnasium in Bern hatte sich Natascha noch gegen Russisch als Schwerpunktfach entschieden und Spanisch gelernt. *Damit kann man 22 Länder bereisen”, erklärt Natascha, die seit Herbst 2004 am Institut für Asiatische und Afrikanische Studien der MGU in Moskau Chinesisch und Geschichte studiert.

Auf der Suche nach einem Auslandsaufenthalt nach der Matura im Juni 2002 stiess sie auf einen Russischkurs an der MGU. Natascha beschloss, Russisch zu lernen und so ein Teil von sich auch kennen zu lernen. “Meine Urgrossmutter väterlicherseits war Russin, wir hatten immer wieder Besuch von Bekannten aus Moskau. Auch wenn ich mich nicht wirklich mit ihnen unterhalten konnte, fand ich sie doch immer wahnsinnig interessant.”

Auf nach Moskau

Im August zog sie nach Moskau. Im Nebenzimmer wohnte eine Chinesin, mit ihr teilte Natascha Dusche und WC. “Asiaten und Europäer wohnen nur selten zusammen. Ich sollte mit einer Westlerin wohnen, doch das Zimmer war schon besetzt”, sagt sie. Mit Händen und Füssen hätten sie sich am Anfang verständigt, weil beide kein Russisch konnten.

Mit der Sprache vertiefte sich auch die Freundschaft, die chinesische Freundin führte Natascha in die faszinierende Welt der Chinesen ein. “Es besteht hier an der Uni eine Parallelwelt, von der die Russen keine Ahnung haben. Es ist alles bis ins letzte Detail organisiert, man kann sich die Kleider reinigen lassen oder Essen bestellen, alles kein Problem!”

Im Gegensatz zu anderen westlichen Studenten, die vor allem unter sich blieben, fand Natascha über ihre Eltern, die Kunst von Völkern aus dem hohen Norden sammeln, den Kontakt mit einem russischen Kunsthistoriker und seiner Familie.

“Ich hatte wahnsinniges Glück, dass ich diese Leute kennenlernte. Mittlerweile gehöre ich zur Familie, ich habe hier nicht nur Eltern, sondern auch eine russische Babuschka, einen weiteren Bruder und sogar einen Hund.”

Definitiver Entscheid

Als das Jahr zu Ende war, kehrte sie in die Schweiz zurück und begann Medizin zu studieren, merkte aber schnell, dass das nichts für sie war.

In Moskau war ihr klar geworden, dass sie Chinesisch lernen wollte. In Bern ging das nicht, in Zürich wurde der Fokus beim Studium für ihren Geschmack zu sehr auf Linguistik und Literatur gelegt, in Genf hätte sie alles auf Französisch machen müssen.

Sie vermisste aber auch Moskau ganz schrecklich. So reifte der Gedanke, Chinesisch in Russland zu studieren.

Harter Start

Natascha ist die einzige westliche Ausländerin in ihrem Studienfach Chinesisch und Geschichte. “Der Anfang war brutal hart”, erinnert sie sich. “Die Vorlesungen dauern hier 80 Minuten, Stress und Müdigkeit haben mir am Anfang extrem zugesetzt.”

Ans Aufgeben habe sie nicht gedacht. “Wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es durch”, sagt sie und erzählt, dass sie langsam genug vom Studieren hat. “Zum Glück sind es nur noch eineinhalb Jahre.”

Sie ist aber auch aus einem anderen Grund froh, Moskau verlassen zu können. Von ihren meist asiatischen Freunden sind mindestens zehn schon zusammengeschlagen worden, im Studentenwohnheim werde sie mit Armut und Alkoholismus, Gewalt und Selbstmorden konfrontiert.

Natascha hat in Russland keine Probleme, ihr sieht man nicht an, dass sie Ausländerin ist. “Beim ersten Kontakt und wenn mich mein Akzent noch nicht verraten hat, haben viele das Gefühl, ich sei Russin. Und mein russischer Name hilft mir natürlich auch”, sagt sie.

Zwischen zwei Kulturen

“Ich habe manchmal das Gefühl, zwei Leben zu haben. Ich habe eine Familie in der Schweiz und eine in Russland.” Zumindest zwischen der Schweiz und Russland kann sie ohne Probleme pendeln.

In China sei alles ganz anders, “da bin ich die Ausländerin und werde es immer sein. Ich bin in Bern zu Hause.” Die langen Semesterferien aber verbringt sie grösstenteils in China, um ihr Mandarin weiter zu verbessern.

Obschon sie seit fünf Jahren mehr oder weniger im Ausland lebt, plagt sie in letzter Zeit öfters etwas das Heimweh. “Ich würde gerne in die Schweiz. Aber wer weiss, wie lange ich es aushalten würde. Die Schweiz ist super, um aufzuwachsen und wahrscheinlich auch, um alt zu werden”, sagt Natascha. “Aber zwischendurch muss man einfach weg!”

swissinfo, Alexandra Stark, Moskau

In Russland leben rund 600 Schweizer, rund 90% von ihnen leben in der Gegend von St.Petersburg und Moskau, 26 im Süden und im Nordkaukasus, 24 in Sibirien.

Russland war zu Zarenzeiten ein beliebtes Auswanderungsziel für Schweizer. Bis zur russischen Oktoberrevolution 1917 sind schätzungsweise 25’000 Schweizer auf der Suche nach einem besseren Leben nach Russland ausgewandert.

Natascha Cerny wurde am 22. September 1983 in Bern geboren. Ihre Mutter ist Kanadierin, der Vater Schweizer.

Im Juni 2002 machte Natascha am Gymnasium Kirchenfeld in Bern ihre Matura, seit Herbst 2004 studiert sie in Moskau.

Die Moskauer Universität wurde 1755 gegründet, heute sind über 40′ 000 Studenten eingeschrieben.

Jedes Jahr studieren an der Moskauer Staatlichen Universität mehr als 2000 Studenten und Doktoranden aus vielen Ländern der Welt.

Die Moskauer Universität hat 1000 einzelne Häuser und Bauten mit der Gesamtfläche von etwa 1 Million Quadratmeter, darunter 8 Wohnheime, in denen mehr als 12’000 Menschen wohnen.

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