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Frühchen sterben lassen

Frühgeborenes im Brutkasten. das-fotoarchiv

Die Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie empfiehlt, bei Kindern, die vor der 24. Schwangerschafts-Woche geboren werden, von lebenserhaltenden Intensiv-Massnahmen abzusehen.

Es ist das erste Mal, dass in der Schweiz für eine bestimmte Gruppe Patienten empfohlen wird, wann keine Spitzenmedizin mehr zum Einsatz kommen soll.

Die Betreuung der extremen Frühgeburten soll sich in der Regel auf Palliativmassnahmen – auf schmerzbekämpfende Massnahmen – beschränken. Dies schreibt die Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie in einer in der aktuellen Ausgabe der “Schweizerischen Ärztezeitung” veröffentlichten Empfehlung.

Begründet wird die – von mehreren Fachgesellschaften mitgetragene – Empfehlung mit dem derzeit aktuellen Stand des Wissens über Sterblichkeit und Langzeit-Erkrankungsraten. Als Grundlage dienten unter anderem die Empfehlungen europäischer, amerikanischer und kanadischer Fachgruppen.

Unterstützt wird die Empfehlung auch von der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (ZEK). ZEK-Mitglied Urs Strebel verwies gegenüber SR DRS auf das Leiden der Kinder “Wenn 98% der Kinder sterben und diese vielleicht mehrere Monate in der Intensivstation liegen, dann muss man das auch einbeziehen.”

Interdisziplinäres Team und Eltern gefordert

Bei Frühgeborenen nach der 24. Schwangerschaftswoche muss ein erfahrenes Neonatologieteam im Gebärsaal entscheiden, ob der Einsatz intensivmedizinischer Massnahmen sinnvoll sei.

Solange berechtigte Hoffnung bestehe, dass das Frühgeborene mit einer akzeptablen Lebensqualität überlebe und die notwendigen Therapien zumutbar seien, sollten die ergriffenen Massnahmen fortgesetzt werden, so die Empfehlungen.

Menschenwürdiges Sterben

Müssten das betreuende Team und die Eltern jedoch erkennen, dass das durch die Therapie zugemutete Leiden, “gemessen am zu erwartenden Gewinn”, unverhältnismässig geworden sei, verlören die intensivmedizinischen Massnahmen ihren Sinn.

Es sollte dann vielmehr alles getan werden, “um dem Kind ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen und die Eltern in der Sterbebegleitung zu unterstützen”.

Rationierung der Medizin

Klar ist: Die Fachleute argumentieren mit Überlebenschance, Lebensqualität und Leiden der kleinen Wesen, die ihre eigene Meinung ja nicht kundtun können und deshalb auf Entscheide von Erwachsenen angewiesen sind.

Dennoch ist die Massnahme auch eine Rationierung der medizinischen Leistung, wie die Fachleute in der Ärztezeitung transparent diskutieren:

“In der Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit stellt sich die Frage, ob ein erheblicher Anteil der verfügbaren finanziellen Ressourcen für die Behandlung kaum lebensfähiger Frühgeborener mit sehr ungünstiger Prognose verwendet werden darf, wenn diese Mittel dafür in andern Bereichen des Gesundheitswesen fehlen.”

Es sei gerechter, nicht bestimmte Patientenkategorien von einer Therapie auszuschliessen, sondern bestimmte Therapien nicht zuzulassen, so die Autoren. Allerdings verweisen auch sie auf die gesellschaftliche Debatte, die damit nicht vom Tisch sei.

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