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Drama in Norwegen: Schweizer Presse unter Schock

Längst nicht nur die Norweger stehen unter Schock. Keystone

Die Schweizer Presse vom Wochenende und Montag ist entsetzt über das Massaker in Norwegen. Sie konstatiert, dass man sich zu sehr auf die äussere Bedrohung durch islamischen Terror konzentriert und den inneren, oft unsichtbaren Feind vergessen habe.

Die Weltsicht des Attentäters sei in Norwegen weit verbreitet, sagt der norwegische Sozialanthropologe Thomas Eriksen in der NZZ am Sonntag: Viele Menschen in Norwegen wollten nicht wahrhaben, dass auch sie in einer globalisierten Welt lebten.

Diese Weltsicht, wonach die westliche Zivilisation durch Immigranten und speziell Muslime bedroht sei, dass es eine Verschwörung von ihnen gebe und die eigene Elite Verräter seien, teilten auch viele andere Norweger, so der Sozialanthropologe, obschon sie wie alle über die Tat schockiert seien.

Norwegen sei, ähnlich wie die Schweiz, “ein Hafen von Frieden und Stabilität schlechthin gewesen – bis am letzten Freitag”, sagt Eriksen im weiteren. Früher sei die Schweiz das reichste und teuerste Land der Welt gewesen, heute sei es dank dem Öl Norwegen.

Was das bevölkerungsmässig kleine Land eben für Immigranten attraktiv mache. Dies habe auch einen neuen Nationalismus hervorgerufen.

Auch im SonntagsBlick wird auf die Ähnlichkeit des EWR-Landes Norwegen mit der Schweiz verwiesen: Die Schweizer des Nordens seien “gutbürgerlich und tolerant, der Fremdenhass hält sich in Grenzen, es gibt keinen Euro”, kommentiert das Blatt – bis gestern. Nun erkenne man, welches Unheil politischer Irrsinn anrichten könne. “Gebe Gott, dass das Paradies Schweiz vor solchem Irrsinn verschont bleibt!”

Minarettinitiative und Konsequenzen

Die Schweizer Presse kommt mehrmals auf den Umstand zu sprechen, dass der Massenmörder Breivik die Schweizer für ihre Minarett-Initiative lobte. Der SoBli zitiert aus dessen Internet-Texten, dass deshalb “Europäer und die USA psychologische Kriegsführung gegen die Schweizer anwenden werden”.

Auch die Westschweizer Zeitung Le Matin kommentiert dies. Man werde die Schweizer wegen ihrer Abstimmung als “Faschisten und Nazis anfeinden, um sie ruhig zu stellen”, schreibe Breivik. Und er befürchte sogar, dass ein weiteres Referendum den Minarett-Entscheid rückgängig mache.

Le Matin zitiert im Kommentar den sozialdemokratischen Genfer Parlamentarier Carlo Sommaruga, der in der Folge des Anschlags seinen Ratskollegen von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Oskar Freisinger frage, ob er nun “nach den 90 Toten in Norwegen seine Kontakte zu den antiislamistischen Netzwerken in Europa” einstelle.

Freysinger habe, empört, von einer “Einspannung dieser Tragödie für eigene Zwecke” gesprochen: “In der Walliser SVP werden solche Typen augenblicklich ausgeschlossen.” Nur sei es nachher leider unmöglich, ihr weiteres Handeln vorauszusehen.

Jahre dauernde Vorbereitung

Im Editorial nicht nur des Le Matin wird die Grausamkeit des Umstandes hervorgehoben, dass der Mörder wohl während Jahren seine Anschläge vorbereitet habe.

Der Corriere del Ticino sieht gerade in dieser minuziösen jahrelangen Vorbereitung ein Anzeichen für den “klarsichtigen Wahnsinn” des Massenmörders. Der Corriere fragt, ob Breivik ein Einzelgänger oder gut vernetzt war. Er hätte mit englischen Rechtsextremen zusammengearbeitet, und ein schwedisches Neonazi-Internet-Forum abonniert. Auch in seinem über 1500-seitigen “Manifest” und seinem Hass gegen alles Multikulturelle zeige sich  “eine gute Dosis Irrsinn”.

Der vom Tages-Anzeiger befragte norwegische Friedenforschungs-Experte Kristian Harpviken geht “weder von einem internationalen noch von einem nationalen Netzwerk” aus. Es sei die Tat eines Einzelnen, eines Rechtsextremisten. “Von verstärkten und staatsbedrohenden Aktivitäten rechtsextremistischer Kreise kann keine Rede sein.”

Auf die Frage, wie sich denn derartige Attentate verhindern liessen, sagt Harpviken, dass sich die norwegische freiheitliche Ordnung schlecht mit einem umfassenden Polizeistaat vertrage: Dass aber “eine Person einfach so einen Lieferwagen vor dem Regierungssitz abstellen kann, darf es nicht mehr geben”.

“Noch mehr Demokratie”

Der Umstand, dass das Monster ein Norweger ist, der sich unerkannt im Land selbst aufhielt und kein  Ausländer oder ausländischer Terrorist, dürfte für die Norweger “sogar noch schlimmer sein”, schreibt der Corriere del Ticino. Mit anderen Worten: Mehr Kontrollen an den Grenzen oder innerhalb der norwegischen Muslimen hätten auch nichts genützt.

So stellt sich die Frage, wie Norwegen die Gefahren im eigenen Land künftig besser erkennen kann. Denn niemand bemerkte trotz 1500 Seiten im Internet, dass Breivik seit Jahren seinen Massenmord plante.

Harpviken sagt, dass die norwegische Demokratie “im Rahmen einer kulturell einheitlichen und geografisch abgelegenden Gesellschaft” entstanden sei. Heute sei das anders. “Deshalb braucht es neue und erweiterte Möglichkeiten der Parzipation.” Auch scheinbar Sprachlose müssten eine Stimme bekommen.

Auch die Neue Zürcher Zeitung kommt in ihrem Kommentar der Montagsausgabe auf die Notwendigkeit nach zusätzlicher Demokratie zu sprechen: Die Antwort des Regierungschefs Stoltenberg auf die Gewalt laute: “Noch mehr Offenheit, noch mehr Demokratie, aber niemals Naivität.”

“Der Feind von innen”

Gemäss NZZ müsse sich Norwegen nun vor allem mit der Tatsache auseinandersetzen, “dass der Feind von innen kam”, während sich das allgemeine Bedrohungsbild dieses Nato-Staats auf ausländische Akteure und islamische Radikalisten richte.

Das stark auf ausländische Arbeitskräfte angewiesene Land müsse sich mehr mit den Überfremdungsängsten der Normalbürger befassen. Es gehe nicht an, dass die etablierten Parteien aus Angst vor Rassismusvorwürfen sich “auch in Norwegen vor der Integrationsdebatte scheuen” und sie den nationalistischen, fremdenfeindlichen Kräften (im Untergrund) überlassen.

Die norwegische Polizei will öffentliche Propaganda des Attentäter Anders Behring Breivik nach der Ermordung
von fast 100 Menschen verhindern.

Wie die zuständige Polizeijuristin Carol Sandby in der Online-Zeitung “VG Nett” ankündigte, soll beim ersten Haftprüfungstermin mit dem 32-Jährigen der Ausschluss der
Öffentlichkeit beantragt werden.

Der Rechtsradikale hatte in Verhören nach den beiden
Anschlägen vom Freitag mit mindestens 93 Toten erklärt, dass er seine Motive vor dem Haftrichter darlegen wolle.

Dafür wünsche er Öffentlichkeit.

In seinem sogenannten Manifest im Internet hatte der Mann geschrieben, dass er die Zeit nach einer möglichen Festnahme als “Propagandaphase” nutzen wolle.

Bundespräsidentin und Aussenministerin Micheline Calmy-Rey hat am Samstag die Angriffe in Norwegen verurteilt.

Sie erklärte sich zutiefst schockiert über die tragischen Ereignisse, wie das Aussenministerium am Samstag mitteilte.

Im Namen der gesamten Regierung sprach Calmy-Rey den Angehörigen und Freunden der Opfer ihr tiefes Beileid aus.

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