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Schweizer Fussabdruck in russischen Gefängnissen

In Mojaïsk sind zwar die Gitter vor den Fenstern verschwunden, doch der Stacheldraht auf den Mauern um das Straflager herum bleibt. swissinfo.ch

Ein Pilotprojekt, das von Schweizer Experten angestossen wurde, wird gegenwärtig in fünf russischen Jugendstrafanstalten umgesetzt. Langfristig ist die Schaffung von veritablen Ausbildungszentren vorgesehen. Ein Besuch in einer Anstalt bei Moskau.

Es könnte eine Jahresend-Veranstaltung in irgendeiner Schule sein. Die Jugendlichen spielen ihre Sketches und führen ein Marionettentheater auf. Wären da nicht die Stacheldrähte, die rund um die Jugendstrafanstalt Mojaïsk, einer Stadt in der Region Moskau etwa hundert Kilometer westlich der Hauptstadt, auf den Mauern angebracht sind. Hier sind Jugendliche wegen schwerer Straftaten in Haft.

Der zweite Unterschied: Das Publikum besteht aus Mitgliedern der russischen Vollzugsbehörden, der Leitung der Strafanstalt und Mitgliedern einer Schweizer Delegation aus Psychiatern, Psychologen, Strafrechts-Experten und Vertretern des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).

Die Delegation wird von Hans-Ulrich Meier geleitet. Er ist Experte des EDA und Direktor des schweizerisch-russischen Projekts “Reform des Strafvollzugs für Minderjährige”, das seit 2009 läuft.

Das 2009 gestartete schweizerisch-russische Projekt “Reform des Strafvollzugs für Minderjährige” will aus Strafkolonien für Jugendliche Ausbildungszentren machen.

Von den 2554 betroffenen Jugendlichen sitzen 21,4% wegen Diebstahls ein, 18,2% wegen Plünderungen, 13,5% wegen bewaffneten Raubes, 8% wegen Mordes, 11,1% wegen schwerer Körperverletzungen und 8,4% wegen Vergewaltigung.

31,7% der Häftlinge haben psychische Probleme, 3,4% sind drogenabhängig und 3% Alkoholiker.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten investiert pro Jahr 70’000 Franken, um für russisches Strafvollzugs-Personal und Kader Seminare zu organisieren und den Besuch von Schweizer Strafanstalten zu ermöglichen.

Im Projekt tauschen Russen und Schweizer ihre Erfahrungen aus. So entstand die Idee der Reform der russischen Jugendstrafanstalten, die von Schweizer Experten zu Beginn des Programms vorgeschlagen wurde.

Auf russischer Seite geht es vor allem darum, die Hilfe für jugendliche Delinquenten mit Hilfe von Ausbildnern und Psychologen auf den Einzelnen zuzuschneiden.

Die Schweiz kann von Russland lernen, die künstlerische Seite (Musik, Malen, Theater), die in Russland gut entwickelt ist, in den Strafvollzug zu integrieren.

46 Strafanstalten für Minderjährige

Damals hatte Russland, das in allen Ecken des Landes insgesamt 46 Strafanstalten für Minderjährige betreibt, die Schweiz um Rat angefragt, wie die Haftbedingungen von Delinquenten zwischen 14 und 18 Jahren verbessert werden könnten. Die Schweiz schickte daraufhin Experten nach Russland, die eine ganze Reihe von Vorschlägen machten. Daraus entstanden Pilotprojekte, die in fünf Kolonien im Land laufen.

“Es ging nie darum, das Schweizer System in Russland einzuführen”, sagt Meier. “Vielmehr wollen wir den Austausch zwischen den beiden Ländern auf Basis einer gemeinsamen Reflexion erweitern.”

Weg vom paramilitärischen System

Prioritär für die Schweizer Experten ist die Renovierung der Gebäude, in denen die Jugendlichen untergebracht sind. Diese sind oft in einem desolaten Zustand. Dann folgt die Frage der Unterbringung: Heute schlafen oft 40 Personen auf Etagenbetten in einem Saal. Das Projekt sieht vor, dass die Jugendlichen künftig in Viererzimmern schlafen können.

Zudem soll der repressive Charakter der Strafanstalten abgedämpft werden – diese sind heute vergleichbar mit Strafkolonien für Erwachsene –, indem eine echte pädagogische Unterstützung angeboten wird.

Das Ziel: Die Umwandlung der paramilitärisch organisierten Strafkolonien in veritable Ausbildungszentren, die den Häftlingen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglichen und damit auch eine drastische Reduktion der Rückfälligkeit nach sich ziehen.

“Die Jugendlichen müssen die Möglichkeit erhalten, auf ihren Erfahrungen im Strafvollzug aufzubauen, um wieder ein normales Leben führen zu können”, sagt Oleg Merkuriev, Direktor der Strafanstalt Mojaïsk.

Neue Lokalitäten

Für den Besuch, der von einem Dutzend Journalisten begleitet wird, haben die russischen Strafbehörden mit der grossen Kelle angerührt. Die Kantine und das Schulungsgebäude sind brandneu, auch wenn die Renovierung der Schlafsäle noch nicht ganz abgeschlossen ist.

“Die Schlafsäle mit 40 Etagenbetten wurden aufgegeben. Gegenwärtig schlafen die rund hundert Jugendlichen in Zimmern mit 15 bis 20 richtigen Betten und warten darauf, dass ihre Viererzimmer fertiggestellt werden”, sagt Merkuriev.

Eine Entwicklung, die Walter Troxler, Leiter Fachbereich Straf- und Massnahmenvollzug im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), als “sehr positiv” einschätzt.

“Sie haben die Gitter vor den Fenstern entfernt”, freut sich Dorothea Kolde, Koordinatorin des Projekt bei der Schweizer Botschaft in Moskau. “So fühlen sich die Häftlinge etwas besser. Das ist genial.”

In den Gängen, die teils noch stark nach frischer Farbe riechen, kann die Delegation feststellen, dass die Arbeiten gut vorankommen. Alles ist sauber, die Räume wirken einladend, die Farben warm, und die Sträflinge verfügen sogar über einen Billardtisch.

Zudem werden sie von einem Psychologen betreut und können neben der Schule, die sie besuchen dürfen, verschiedenen Tätigkeiten nachgehen. So etwa Sanitär- oder Mechaniker-Arbeiten oder der Bemalung von Tellern.

Unsichtbare Häftlinge

Ein Detail allerdings fällt auf: Ausser beim Eröffnungsspektakel trifft die Delegation keinen einzigen Häftling, weder in den Gebäuden noch im Aussenbereich. Alle gehen sie verschiedenen Tätigkeiten nach: Schulbildung, technische Workshops oder gemeinsame Aktivitäten.

Es ist daher unmöglich, eine Rückmeldung “von innerhalb” zu erhalten. Nur die andauernden Funksprüche aus den Geräten der Wachen, welche die Delegation begleiten, lassen darauf schliessen, dass die Strafanstalt wirklich aktiv ist.

Unter dieser Junisonne könnte man fast vergessen, dass die russischen Gefängnisse immer noch zu den härtesten der Welt gezählt werden und die Sträflinge oft Opfer von Folter, Misshandlungen oder Erpressung werden.

Unausweichlich fragt sich der Besucher, ob er nicht ein potemkinsches Dorf besichtigt. Eine Frage, auf die Hans-Ulrich Meier empfindlich reagiert. Doch er ist überzeugt, dass sich die Dinge ändern.

“In den Pilot-Strafanstalten haben die russischen Behörden praktisch alle unsere Empfehlungen umgesetzt, und die Renovationsarbeiten schreiten sehr rasch voran. Das beweist den echten Willen, das System zu verbessern”, so der Experte.

Unterstützung der Gesellschaft anstreben

Doch die Renovierung von Gebäuden und der Akzent auf die Pädagogik für Jugendliche, die häufig erstmals im Gefängnis mit einem organisierten Leben in Kontakt kommen, reiche allein nicht”, sagt Valery Trofimov, Leiter Jugendkriminalität bei den russischen Bundesstrafbehörden.

“Damit sich das Verhalten von jugendlichen Straftätern verbessert, müssen sie von der Gesellschaft unterstützt werden. Dies kann durch eine bessere Integration von Unternehmen, Gemeindebehörden und der Kirche in den Alltag der Strafanstalt erreicht werden.”

Ein solcher Wandel allerdings ist unmöglich ohne weitgehende Reformen des Strafrechts, der Umsetzungs-Verordnungen und anderer Regelungen. Damit steht Russland vor einer wahren Herkulesaufgabe.

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