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Auch “die besten Köpfe” stossen auf Widerstand

Deutschland und die Schweiz haben viel gemeinsam, aber auch Unterschiede. Reuters

Sie arbeiten, schätzen das Land, trennen den Abfall, tragen zum Wohlstand bei und werden immer mehr: Die Deutschen in der Schweiz sind ein wellenartig wiederkehrendes Stammtischthema, eine beliebte Zielscheibe des medialen und des politischen Boulevards.

“Deutsche stürmen Chefetagen” titelt das Gratisblatt 20 Minuten stammtischtauglich und untermauert die Behauptung damit, dass die Zahl der Deutschen auf den Teppichetagen seit 2002 von damals 3,4 auf aktuell 5% gestiegen sei.

“Der Schweizer Teich ist leergefischt“, sagt der Headhunter Guido Schilling mit Blick auf den ausgetrockneten Schweizer Arbeitsmarkt in etlichen qualifizierten Berufen. Im Topmanagement der Weltkonzerne sei zudem die Nationalität der Funktionsträger häufig Zufall, so Schilling: “Die Unternehmen sind auf die Besten angewiesen. Deshalb suchen sie auch im Ausland.”

Der Direktor der Handelskammer Deutschland Schweiz, Ralph J. Bopp, diagnostiziert einen “Wettbewerb zwischen den europäischen Metropol-Regionen um die besten Köpfe”. Als “hoch wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort” habe die Schweiz seit jeher ein Interesse, die Besten anzuziehen, denn “immer wenn das gelungen ist, hat es dem Wirtschaftsstandort genützt.”

Provokation von rechts

“Wir haben zu viele Deutsche im Land”, sagte Nationalrätin Nathalie Rickli von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) vor drei Wochen auf einem lokalen Zürcher TV-Sender. “Einzelne Deutsche stören mich nicht, mich stört die Masse”, doppelte sie Tage später im Blick nach.

Seither haben die Boulevard-Medien in der Deutschschweiz und in Deutschland die Provokation zum populären und polarisierenden Gassenhauer hochgekocht. Online-Foren und Leserbriefspalten sind voll von emotionell gefärbten, zustimmenden und ablehnenden Reaktionen.

Attraktive Löhne, tiefe Steuern

280’000 Deutsche leben in der Schweiz, so viel wie seit der Zeit vor dem 1. Weltkrieg nicht mehr. Damit beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung 3,3%. Die Deutschen sind nach den Italienern die zweitgrösste ausländische Bevölkerungsgruppe im Land.

Für das Auswandern in die Schweiz gibt es gute Argumente: Die Löhne sind attraktiver, die Steuern tiefer, das Wetter besser, die Skigebiete liegen vor der Haustüre und die Heimat ist nicht weit entfernt.

Rund 60% der deutschen Einwanderer sind Akademiker. 4500 Ärzte in der Schweiz haben ein deutsches Ärztediplom. Das entspricht einem Anteil von 15 Prozent. Laut verschiedenen Statistiken ist der Anteil der Deutschen unter den Universitäts-Professoren, den Ingenieuren, beim qualifizierten Spitalpersonal und bei den Managern ähnlich hoch.

Alte Stereotypen

Am 31. Dezember 2011 waren laut dem jährlich erscheinenden Schilling-Report (siehe rechte Spalte) 32% der Geschäftsleitungsmitglieder in den Schweizer Firmen Deutsche. 34% stammten aus dem angelsächsischen Raum. In der öffentlichen Diskussion ist jedoch lediglich von Deutschen Teppichetagen-Stürmern, die angeblich den Schweizern vor der Sonne stünden, die Rede, nicht jedoch von den Angelsachsen.

Das sei auf die “Stereotypen, die im kollektiven Gedächtnis irgendwo stecken und die man regelmässig bemüht” zurückzuführen, sagt Bopp, der seit 22 Jahren in der Schweiz lebt: “Es existieren verschiedene Vorurteile. Da braucht es lediglich einen kleinen Anstoss, und dann ist das wieder in den Themen drin.”

Der “Sauschwabe” sei ein “Sauschwob” geblieben, “auch wenn die Schweizer heute zu Zehntausenden nach Konstanz und Singen pilgern, um dort billiger einzukaufen”, schreibt der seit mehr als 40 Jahren in der Schweiz lebende deutsche Kommunikationsberater Klaus J. Stöhlker in einem Gastkommentar in der Zeitung Sonntag.

Der warme Kleine und der kalte Grosse

Das Verhältnis der Deutschschweizer zu dem grossen Nachbarland im Norden ist auch ein Verhältnis zwischen dem Kleinen und dem Grossen. “Der Grössere gilt stets als kalt, arrogant und materialistisch, der Kleinere spricht sich selbst Wärme und Gefühl zu. Die Berner reden von den Zürchern wie ein Kachelofen von einem Eisberg”, sagte der Germanist Peter von Matt bereits vor Jahren.

Dazu kommt, dass die Deutschen in der Schweiz als hoch produktiv und zielstrebig gelten und keine Probleme haben, sich zu integrieren: Sie verdienen gut, wohnen in den städtischen Ballungsgebieten, mähen den Rasen mindestens so gründlich wie die Schweizer und können Prosecco von Sekt und Champagner unterscheiden. Ihre Kinder haben in der Schule keine Sprachprobleme. Sie beherrschen die Hochsprache, ihr Wortschatz ist grösser, ihr Ausdruck präziser.

Volle Züge, hohe Mieten

Gleichzeitig hat das auch dank der Zuwanderung generierte Wirtschaftswachstum auch seine Schattenseiten. Die Trams in den grossen Städten und die Intercity-Züge sind überfüllt, die Mieten und Immobilienpreise sind gestiegen.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen sich zudem plötzlich mit einem deutschen Vorgesetzten konfrontiert, fürchten um ihre Stelle und beschweren sich über die Arroganz der Deutschen und ihren autoritären Führungsstil.

Das habe auch damit zu tun, dass das “Sie” in Deutschland noch viel weiter verbreitet ist, während dem in der Schweiz das Du nach einer gewissen Zeit viel selbstverständlicher sei, sagt Bopp: “Nun ist es aber so, dass die deutschen Führungskräfte, die in die Schweiz kommen, sich relativ schnell integrieren und an den anderen Umgang gewöhnen. Da muss man den gesunden Menschenverstand wirken lassen und sich den Gegebenheiten hier anpassen. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber insgesamt höre ich, dass das kein grosses Problem darstellt.”

So sehen es offenbar auch die Mehrheit der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer. Laut einer Umfrage des Sonntags-Blicks glauben lediglich 36%, es habe zu viele Deutsche im Land. 58% gaben an, der Anteil sei “gerade richtig”.

Ende 2011 waren in den 115 grössten Schweizer Unternehmen 45 Prozent der Geschäftsleitungsmitglieder Ausländer. Auch im Vorjahr waren es so viele gewesen.

Dass die Zahl nach jahrelangem Anstieg stagniert ist, sagt laut Schilling nichts aus: “2014 wird die Mehrheit der Geschäftsleitungsmitglieder aus Ausländern bestehen”, sagte der Topkräftevermittler Guido Schilling bei der Vorstellung seiner neusten Managementstudie “Schilling-Report” in Zürich.

Laut Schilling ist es erstaunlich, dass die Schweizer Wirtschaft auch 2011 deutsche Manager gewinnen konnte: “Im Gegensatz zu 2009/2010 ging es der deutschen Wirtschaft gut.” Zudem schreckten Berichte deutscher Medien über ausländerkritische Stimmungen in der Schweiz deutsche Managerfamilien tendenziell ab.

Von den 20 im Börsenindex SMI gelisteten Unternehmen hatten Ende 2011 zwei Drittel einen ausländischen Chef. In den am stärksten kapitalisierten Unternehmen der Schweiz dominieren jedoch nicht Deutsche, sondern Amerikaner.

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