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Tierärzte sind keine heiligen Kühe

Chiropraktik am Objekt: Tierarzt Ruedi Trachsel renkt einer Kuh in Lohnsdorf die Knochen wieder zurecht. Ex-press

Schweizer Tierärzte sind keine "Götter in weiss": Stallgeruch statt Luxusklinik, Rindfleischschau statt Hautstraffung. 250 Jahre nach der Eröffnung der ersten tiermedizinischen Schule in Lyon kämpft der Berufsstand mit Nachwuchsproblemen bei den Nutztierärzten.

2011 feiern die Veterinäre europa- und weltweit den 250. Geburtstag des Bestehens ihres Berufsstandes. 1761 war in Lyon die erste tiermedizinische Fakultät eröffnet worden. Auch in der Schweiz wird das “Welt-Veterinär-Jahr 2011” begangen: Am 4. Juni präsentiert sich der Berufsstand auf dem Berner Waisenhausplatz der Schweizer Öffentlichkeit.

Der Berufsverband der Schweizer Tierärzte war 1813 gegründet worden. Seither hat sich die Tiergesundheit im Land stark verbessert. Heute könne man ihr ein gutes Zeugnis ausstellen, sagt Felix Althaus, Dekan der veterinärmedizinischen Fakultät Vetsuisse. Auch Tierseuchen mit hohem Übertragungspotenzial auf den Menschen wie Tollwut oder Tuberkulose seien ausgerottet.

“Wir sind sehr stolz auf unseren Berufsstand”, sagt Professor Adrian Steiner von der Uni Bern gegenüber swissinfo.ch, “weil es einerseits ein sehr traditionsreicher Beruf ist, der aber anderseits eine extreme Entwicklung durchgemacht hat”. Die Profession habe sich geöffnet, heute würden nicht mehr vorwiegend Tierseuchen bekämpft, sondern die Gesundheit der Tiere angegangen. Andere Tierarten seien dazugekommen, und auch die menschliche Gesundheit sei zum veterinärmedizinischen Anliegen geworden.

Globalisierung und Wandel der Landwirtschaft

Grosse Herausforderungen für seinen Beruf sieht Steiner im Strukturwandel, der die Landwirtschaft erfasst habe. Dieser verändere auch die Art und Weise, wie Veterinäre ihre Leistungen erbringen. Der Berufsstand der Nutztierärzte sei stark mit der Tierzucht respektive –produktion verbunden. Weitere Herausforderungen sieht er in der gestiegenen Reisetätigkeit und im globalen Handel mit Produkten tierischen Ursprungs.

In der Schweiz üben rund 3300 Tierärzte ihren Beruf als Nutztierärzte, in Kleintier- und Pferdekliniken, bei den Behörden oder in der Forschung aus.

“Wir haben im Nutztierbereich immer noch drei Mal so viele Einzel- wie Gemeinschaftspraxen”, sagt Steiner. Anzustreben wären Mehrpersonen- oder klinikähnliche Praxen, in denen es mehr familienfreundliche Teilzeitstellen für die jüngere Generation gäbe und weniger ältere Einzelkämpfer mit Arbeitspensen von 150 bis 180%.

Gerade beim Veterinärberuf hat der gesellschaftliche Wandel der letzten 30 Jahre tiefe Spuren hinterlassen. Vor 30 Jahren begann die Teilung  in einen eher ländlichen Gross- und Nutztierarzt-Bereich und einen urbanen Kleintierarzt-Bereich.

Veterinär ist weiblich

Gleichzeitig veränderte sich auch bei den Tierärzten die Gender-Verteilung vom  exklusiven Männerclub zu einem Beruf, der zu fast 85% von Frauen ausgeübt wird.

Von den Absolventinnen der Jahre 2007 bis 2010 hätten sich 40% für Kleintiere entschieden, aber auch 20% für Pferde und 33% für Nutztiere: “Es gibt reine Pferde-, reine Kleintier- und reine Nutztierpraxen, und gemischte”, sagt Steiner. “Bei den Einzelpraxen entfällt fast die Hälfte auf Kleintiere, und rund 45% aller Praxen sind Kleintierpraxen.”

Laut Steiner zeigt sich die weibliche Dominanz in der Veterinärmedizin in der gesamten westlichen Welt, sie erreiche teils über 90%. Untersuchungen lassen vermuten, so Steiner, dass der Imageverlust des Veterinärberufs in der jüngsten Vergangenheit zum hohen Frauenanteil geführt habe. Auch die Einkommensfrage spiele eine Rolle: Tierärzte seien nicht unbedingt Grossverdiener.

“Erhebungen zeigen, dass ein Nutztierarzt nicht weniger als ein Kleintierarzt verdient – aber viel länger dafür arbeitet”, sagt Steiner. Das heisst, der Stundenlohn sei geringer.

Nachwuchsprobleme beim Nutztierarzt?

Tierärzte würden auf dem Land immer seltener, stand kürzlich in den Medien zu lesen. Deutsche Kollegen würden vermehrt einspringen. Die junge Tierarztgeneration sei nicht mehr bereit, die langen Fahrtwege, Präsenz- und Notfallzeiten zu akzeptieren. Steiner empfiehlt, dem Problem mit zeitgemässen Mehrärzte-Praxen zu begegnen.

Und wie steht es mit dem Verhältnis des Tierarztes zur landwirtschaftlichen Tierzucht, die immer intensiver betrieben wird und deshalb vielleicht mit Tierschutz-Auflagen in Konflikt geraten könnte? “Heute strebt die Landwirtschaft an, mit guten Zucht- und Haltungsbedingungen Marktvorteile zu gewinnen”, hält Steiner entgegen.

Werde tier- und tierschutzgerecht produziert, erhalte der Tierhalter dank den entsprechenden Labels auch mehr Geld. Falls sich wirklich ein Missbrauch abzeichne, sei es nicht am praktizierenden Nutztierarzt, sondern am Amtstierarzt, einzugreifen. “Sieht der Nutztierarzt tierschutzwidrige Bedingungen, muss er sie mit dem Tierhalter besprechen. Erst in einem späteren Schritt wird er eine Anzeige erstatten. Umgesetzt wird das Ganze dann vom Amtstierarzt.”

2011 wird der 250. Jahrestag der Gründung der ersten tiermedizinischen Fakultät in Lyon, Frankreich, gefeiert.

Die Europäische Kommission und das OIE (World Organsation for Animal Health) unterstützen das Jubiläumsjahr zusammen mit der Kampagne “Tierärzte in unserem Alltag”.

Da Seuchen keine Grenzen kennen, hat sich die Schweiz tiermedizinisch nach 1972 in Europa integriert.  

Die Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST) ist der Berufsverband von über 2700 Schweizer Tierärzten.

Der Verein wurde 1813 gegründet. Sitz ist Bern.

Seit 1816 gibt die Gesellschaft eine wissenschaftliche Zeitschrift heraus, das “Schweizer Archiv für Tierheilkunde”.

Die GST verleiht Facharzttitel mit dem Zusatz FVH, zum Beispiel in den Bereichen Pferde-, Wiederkäufer-, Schweine-, Kleintiermedizin u.a.

Der Tierarzt befasst sich mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Tiere, der Erforschung, Verhütung und Behandlung von Tierkrankheiten, dem Schutz des Menschen vor Schädigungen durch Tierkrankheiten, der Kontrolle von Lebensmitteln tierischer Herkunft, den Problemen des Tier- und Umweltschutzes.

Etwas mehr als die Hälfte der Tierärzte in der Schweiz arbeiten in einer privaten Praxis oder Klinik.

Viele von ihnen behandeln ausschliesslich oder hauptsächlich Kleintiere.

In den Nutztierpraxen beschäftigen sich die Tierärzte mit den auf Bauernhöfen gehaltenen Tieren (Rinder, Schweine, Geflügel).

Zunehmend treten auch extensiv gehaltene Tiere auf, wie Schafe, Ziegen, Hirsche.

Die traditionelle Einzelbehandlung geht zurück, die Bestandesmedizin nimmt zu, in Analogie zum Hausarztmodell: Der Arzt wird zum Gesundheits-Manager für die von ihm betreuten Tiere auf Bauernbetrieben (oder Kassenpatienten).

Auch in Institutionen für Tiergesundheit, Tierschutz oder Laboratorien und in der Forschung & Entwicklung. arbeiten Veterinäre.

Schliesslich sind Tierärzte als Fleisch- und Lebensmittel-Kontrolleure und Verantwortliche für Hygiene und Qualität tierischer Lebensmittel zuständig.

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