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In beiden Richtungen wichtig

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Es ist soweit: Im Rahmen der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU tritt das Personen-Freizügigkeits-Abkommen in Kraft.

Das Abkommen sieht eine schrittweise Öffnung des Arbeitmarktes zwischen der Schweiz und der EU vor. Ein Schweizer soll sich also mit den gleichen rechtlichen Vorgaben wie ein Franzose in Paris um eine Stelle bewerben können, ebenso ein Franzose in Zürich. Das soll auch ermöglicht werden, wenn die Familien in die neue Umgebung mitkommen und die Ehepartnerinnen auch einer Berufstätigkeit nachgehen. Das Saisonnier-Statut wird abgeschafft.

Für Schweizerinnen und Schweizer gilt die Freizügigkeit in der EU bereits zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens. Die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und Berufsausweisen ist eine Voraussetzung dafür. Für EU-Bürgerinnen und -Bürger erfolgt der Übergang etappenweise innerhalb von zwölf Jahren. Dies nimmt die EU in Kauf. Sie hat Erfahrung mit Integration und gewährt dem zögernden Kleinstaat Schweiz bis dahin zur Gewöhnung eine Schnupperlehre.

Ausstiegsmöglichkeit

Nach einer siebenjährigen Probephase kann die Schweiz entscheiden, ob sie das Abkommen verlängern will, wobei dieser Entscheid dem fakultativen Referendum unterliegt. D.h. mindestens 50’000 stimmberechtigte Schweizerinnen und Schweizer können eine Volksabstimmung über eine solche Verlängerung verlangen.

Zentrales Dossier

Für Gregor Kündig, beim Verband der Schweizer Unternehmen economiesuisse zuständig für Aussenwirtschafts-Fragen, ist das Freizügigkeits-Abkommen “ein sehr zentrales Dossier, wenn nicht das wichtigste” der sieben bilateralen Abkommen, die am 1. Juni in Kraft treten. Denn es decke eine der vier Freiheiten des Binnenmarktes – Personen- , Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – ab.

Von der Wirtschaft her gesehen sei der Personenverkehr im EU-Raum von grösster Bedeutung, “in beiden Richtungen”, sagt Kündig gegenüber swissinfo. Dabei erwähnt er vor allem die qualifizierten ausländischen Arbeitskräfte, die bei Schweizer Firmen arbeiten können. Umgekehrt sei es für Schweizer Firmen wichtig, dass ihre Schweizer Mitarbeiter im Ausland internationale Erfahrungen sammeln. Und weil es keine Bewilligungen mehr brauche, um jemanden aus dem Ausland in der Schweiz anzustellen, werde eine “ganz andere Planung innerhalb eines Unternehmens” möglich.

Vereinfachungen und Erleichterungen

Ähnlich tönt es von Seiten des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. Direktor Peter Hasler erhofft sich vom Freizügigkeits-Abkommen administrative Vereinfachungen und Erleichterungen für die Schweizer Firmen. Es werde mit der Zeit nicht mehr nötig sein, alle Verträge, alle Löhne vom Staat überprüfen zu lassen.

Die Schweiz brauche dringend qualifizierte Leute aus dem Ausland. “Die Schweiz ist ein Land, das vom Knowhow von auswärts lebt”, so Hasler zu swissinfo. Jetzt werde es weniger Probleme für solche Leute geben, zum Beispiel mit dem Familiennachzug, mit dem Erwerb von Wohneigentum.

Chance für alle

Der Direktor des Arbeitgeberverbandes sieht aber auch Chancen für weniger gut qualifizierte Ausländer, “die eher unangenehmere Arbeiten verrichten, die von Schweizern nicht übernommen werden”. So könnten auch da Lücken gefüllt werden, ohne dass mit Komplikationen wie Kontingenten und Restriktionen zu rechnen sei.

“Die zweite Hoffnung ist natürlich, dass nun die Schweizer Arbeitnehmer im Ausland ohne Probleme auf Gegenrecht pochen können und dass unsere Zeugnisse und Diplome dort anerkannt werden”, so Hasler zu swissinfo.

Vom Abkommen profitieren würden in der Schweiz vor allem Wachstumsbranchen, Branchen “im oberen Segment”, sagt Gregor Kündig von economiesuisse. Für Peter Hasler vom Arbeitgeberverband können alle Branchen profitieren, weil generell überall gut qualifizierte Leute gebraucht würden. Auch für Gastro-Tourismus-Branchen werde es nun möglich sein, flexibler zu reagieren.

Unterschiedliche Einschätzungen

Laut Kündig befürchtet economiesuisse keineswegs, dass die Schweiz mit ausländischen Arbeitnehmern “überschwemmt” wird. “In einer Zeit, wo die Demografie eher Probleme aufwirft, brauchen wir eine gewisse Zuwanderung.” Der Arbeitsmarkt werde dank dem Abkommen flexibler und besser werden.

Etwas anders sieht es der Direktor des Arbeitgeberverbandes. Peter Hasler sieht die Gefahr, dass das neue Kurzaufenthalter-Statut dazu führen könnte, dass viele Ausländer aus von Arbeitslosigkeit geprägten Gegenden in die Schweiz kommen könnten. Hier würden sie vielleicht kurz arbeiten und dann wieder arbeitslos werden. “Dann könnten sie versucht sein, unsere Arbeitslosen-Versicherung zu benützen. Deshalb müssen wir das Gesetz ändern, doch dies wird jetzt mit dem Referendum der Gewerkschaften bekämpft, so dass hier Risiken bestehen, dass diese Versicherung geplündert wird”, so Hasler.

Flankierende Massnahmen

Für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) bewirkt das Freizügigkeits-Abkommen, dass die aus dem EU-Raum stammenden, in der Schweiz erwerbstätigen Menschen nicht mehr Arbeitnehmer zweiter Klasse sind. “Die Hoffnungen der Gewerkschaften, dass dabei keine Nachteile für die einheimischen Beschäftigten entstehen, gründen auf der Durchsetzung von flankierenden Massnahmen, die man zum heutigen Zeitpunkt als griffig bezeichnen kann”, erklärt SGB-Redaktor Ewald Ackermann gegenüber swissinfo.

Der SGB werde sich weiterhin dafür einsetzen, dass die konkrete Umsetzung dieser flankierenden Massnahmen zur Verhinderung von Lohndumping “mit scharfen Zähnen ausgerüstet wird”.

Jean-Michel Berthoud

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