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In den Alpen läuten die Genderglocken

Kinder in Zuoz
Eine Szene wie aus dem Bilderbuch, aber mit einer Änderung: Am traditionellen Chalandamarz in Zuoz liefen in diesem Jahr zum ersten Mal auch Mädchen mit. Vorangegangen war eine Kontroverse. Keystone / Mayk Wendt

Das Schweizer Kinderbuch "Schellen-Ursli" hat den Frühlings-Brauch "Chalandamarz" weltbekannt gemacht. Nun, da auch in letzten Bastionen des Brauchtums Mädchen mitmachen wollen, brodelt es in den Schweizer Bergen. Zu Besuch in Zuoz, einem Dorf zwischen Tradition und Genderfragen.

So stellen sich Ausländer:innen die Schweizer Berge vor: Herrschaftliche Engadinerhäuser mit aufwendigen Wandmalereien reihen sich im Dorfkern von Zuoz aneinander. Ein mit Blumen geschmückter Brunnen steht auf dem Platz, der vom Schulhaus und der Gemeindekanzlei gesäumt wird. Und über der Siedlung thront das Lyceum Alpinum, eine Boarding School mit internationalem Renommee.

Doch die Idylle trügt. Fast ein Jahr lang herrschte Zwist im Alpendorf. Im Zentrum steht der Kulturkampf zwischen Tradition und Genderpolitik, ein Konflikt, wie er sich überall auf der Welt abspielt.

In Zuoz geht es um nichts weniger als den bekanntesten Brauch des Engadins: Chalandamarz, einen Umzug am 1. März, bei dem die Dorfbuben mit Glocken den Winter vertreiben.

Nur die Buben, und das war das Problem – bis heute.

Eine Emanzipationsgeschichte

Einem globalen Publikum bekannt wurde Chalandamarz durch das Bilderbuch “Schellen-Ursli”. 1945, also direkt nach dem Krieg, veröffentlicht, wurde die Erzählung mit ihrer ikonischen Bildsprache über die Jahrzehnte zum zweiterfolgreichsten Kinderbuch der Schweiz. Nur noch von “Heidi” in den Schatten gestellt. Übersetzungen gibt es in acht Sprachen, darunter Englisch, Japanisch und Chinesisch.

Erzählt wird die Geschichte vom kleinen Ursli, der für Chalandamarz nur ein winziges Ziegen-Glöckchen bekommen hat, weshalb sich die Buben im Dorf über ihn lustig machen. Ursli müsste am Ende der Kuhglocken-Prozession laufen.

Eine Schmach, die er nicht hinnimmt. Er kämpft sich durch den Tiefschnee zur Alphütte der Familie, wo eine riesige Kuhglocke hängt. Mit dieser kehrt er am folgenden Tag zurück ins Dorf und darf dort, weil er die grösste Glocke hat, den Umzug anführen.

Buch-Cover des Schellenursli
Der “Schellen-Ursli” der Autorin Selina Chönz und des Künstlers Alois Carigiet ist ein Klassiker der Schweizer Kinderbuchliteratur. Er wurde in acht Sprachen übersetzt. Keystone / Str

Es ist eine Emanzipationsgeschichte mit männlicher Besetzung. Ursli hat auch eine Schwester, Flurina, aber sie darf beim Umzug nicht mittun, wie alle anderen Mädchen im Dorf.

Diese Geschlechtertrennung dürfte in den Vierzigerjahren noch niemanden gestört haben. In Zuoz, das die Tradition lange unangetastet liess, hat sie mitten in eine Kontroverse geführt.

Verursacher war der Gemeindevorstand und sein Bestreben nach einer Öffnung des Brauchs. Die Mädchen, so die Idee, sollten vollkommen gleichberechtigt werden – also am Umzug teilnehmen, mitsingen und wie die Knaben blaue Bauernblusen und rote Zipfelmützen tragen.

Das verlange nicht zuletzt das in der Bundesverfassung festgeschriebene Gleichstellungsgebot, das für alle Schulen in der Schweiz verbindlich sei. In Zuoz, das die Tradition wie kaum eine andere Gemeinde im Engadin inszeniert, ist der Chalandamarz ein schulisches Obligatorium.

Doch die Revolution stiess auf Widerstand. Die Voten der Gemeindeversammlung vom letzten Juni, nachzuhören im Internet, dokumentieren den tiefen Graben, der durchs Dorf geht.

Während sich vor allem Frauen für die Teilnahme der Mädchen aussprachen, erklärte ein Anwesender, das wäre nicht mehr sein Chalandamarz. Ein anderer Schlug vor, die Mädchen auf eine andere Weise einzubinden: “Sie können beispielsweise den Festsaal dekorieren.”

Der Gemeindepräsident sah sich zu einem spontanen Manöver genötigt, er zog die Revision der Verordnung zur Überarbeitung zurück. Was blieb war die Kontroverse im Dorf.

Mädchen und Junge in blauem Gewand mit roter Mütze
Blaue Kutte, rote Mütze. Mädchen und Buben sind einander im Chalandamarz-Brauch künftig gleichgestellt, aber nur beinahe. Die Glocken bleiben den Buben vorbehalten. Keystone / Mayk Wendt

Es sei ein Thema, über das man beim Familienessen besser schweige, sagte eine Bewohnerin bei einem Besuch von SWI swissinfo.ch im Spätsommer. Sie selbst befürworte die Revision. Andere, darunter auch Frauen, schüttelten nur den Kopf: Dass die Engadiner Bräuche von Genderaktivist:innen im Unterland umgewälzt würden, sei ein Unding.

Die dunkle Seite

Mischa Gallati, Kulturwissenschaftler und Dozent an der Universität Zürich, ist nicht überrascht von der Skepsis in Zuoz. Der Brauch sei zu einer Zeit entstanden, als die Gesellschaft klar nach getrennten Geschlechtern organisiert war. Rühre man ihn an, werde damit auch diese Dualität infrage gestellt. “Das ist mit Ängsten verbunden. Es gibt eine Abwehrhaltung, den Rückzug auf überlieferte Muster.”

Für Gallati ist das aber nur ein Aspekt der Auseinandersetzung. Die Gemeindeversammlung habe gezeigt, dass das Ganze auch eine Stellvertreterdebatte sei. “Bräuche haben eine dunkle Seite. Es geht immer auch um einen Ausschluss. Darum, wer die Macht hat, wer dazu gehört.”

Wie in vielen Schweizer Bergdörfern stehen sich in Zuoz Einheimische und Neuzuzüger:innen gegenüber. Die Konfrontation ist akzentuiert, denn hier wird Rumantsch gesprochen, die Sprache einer Minderheit. Viele der Zugezogenen unternehmen gar nicht erst den Versuch, sie zu erlernen.

Kinderumzug in Zuoz mit den Alpen im Hintergrund
Die Kinder ziehen mit den Glocken durchs Dorf und vertreiben den Winter, der sich am 1. März, am ersten Tag des römischen Kalenders, von seiner schönen Seite zeigt. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Dass sich der Brauch ändert, ist für Gallati trotz Widerstand selbstverständlich. Es ist zumal nicht die erste Erneuerung. Bräuche sind ein Instrument der Selbstvergewisserung.

Chalandamarz reicht zurück auf eine agrarisch verfasste Gesellschaft, für die der Jahreszeitenverlauf zentral war. “Darum herum wurden diese Rituale gebaut, nun werden sie neu aufgeladen, mit neuen Inhalten”, so Gallati.

Kritischer sieht Andrea Könz den Wandel. Sie ist die Witwe von Steivan Liun Könz, dem Sohn der Schellen-Ursli-Autorin. Natürlich müssten sich Traditionen entwickeln, sagt sie. “Meine Hauptkritik an der Modernisierung ist aber, dass man die Symbolik hinter dem Brauch nicht mehr versteht.”

Chalandamarz sei ein Fruchtbarkeitszyklus, die Plumpen, wie die grossen Glocken heissen, seien ein phallisch besetztes Symbol. “Macht es also Sinn, sie den Mädchen umzuhängen?”

Auch Könz ortet in der Zuozer Debatte einen Kulturkampf. Der Gleichberechtigungsdruck sei von Unterländer Müttern in die Dörfer getragen worden.

“Sie sagten, es geht gar nicht, dass ihre Töchter nicht mitmachen könnten.” Es ist diese Totalität der Ansprüche, die Könz stört. Ihre Tochter habe in Guarda, wo sie lange lebte und wo auch “Schellen-Ursli” spielt, auch am Chalandamarz mitmachen wollen.

Das war bereits in den Neunzigerjahren. Wie andere Engadiner Gemeinden hatte Guarda die Diskussion um den Einbezug der Mädchen schon vor einigen Jahren. “Aber die Genderdebatte war damals noch nicht so verrückt wie heute”, sagt Könz.

Diversität werde zu sehr an Äusserlichkeiten festgemacht, Gleichberechtigung mit Gleichschaltung verwechselt. In vielen Gemeinden hätten die Mädchen in diesem Brauch eine eigene Rolle.

Hier sieht sie das Potenzial für eine Erneuerung des Brauchs, ohne ihn zu verraten. “Es geht dann darum, die Rolle der Mädchen nicht einfach als unbedeutend abzuwerten, sondern ihr eine ebenbürtige Aufmerksamkeit zu schenken.”

Ein Neuanfang

Zuoz hat aus dem Dilemma einen schweizerischen wie unschweizerischen Weg gewählt: Erstmals sind in diesem Jahr die Mädchen am Umzug mitgelaufen, in derselben Aufmachung wie die Buben, aber ohne Glocken zu tragen.

Die zuständige Kommission hat den Kompromiss in eigener Regie erarbeitet, im Auftrag des Gemeindevorstands. Dieser hat die Revision nicht noch einmal vor die Gemeinde gebracht und stattdessen Fakten geschaffen – unüblich in der direktdemokratisch organisierten Schweiz.

Ramun Ratti, Vize-Präsident, und interimistisches Oberhaupt der Gemeinde, sagt, die Einsicht, dass auch die Mädchen teilnehmen sollen, sei in der Gemeinde “grossmehrheitlich da gewesen”. Mit der neuen Aufmachung des Brauchs soll Ruhe ins Dorf zurückkehren.

Chalandamarz sei wichtig für den Zusammenhalt und Identifikation. Auch er spürt den Druck aus dem Unterland. “Betrachtet man das grosse Bild, sind wir in der Minderheit”, sagt Ratti.

Der Genderdebatte müsse man sich stellen, ist Ratti überzeugt. “Es geht darum, den Brauch mit Bedacht weiterzuentwickeln.” So sei das letztlich immer gewesen.

“Die blauen Kutten und die roten Kappen kamen in Zuoz erst in der Nachkriegszeit dazu.” Und überhaupt habe der Brauch seine Funktion verändert. “Früher gab es einen Bezug zum Söldnertum, es ging nebst dem Vertreiben des Winters auch darum, dass sich die Buben im Dorf präsentieren.”

Der Brauch sei heute in erster Linie für die Kinder da. Das hat vielleicht am meisten zu seinen Überlegungen beigetragen, sagt Ratti. “Meine Tochter hat sich auf die Teilnahme gefreut.”

Kinder ziehen durch das Dorf Zuoz
Zum Chalandamarz gehören auch Lieder. Die Kinder singen vor oder im Haus – abhängig von den Platzverhältnissen. © Keystone / Gian Ehrenzeller

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