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Jugendarmut – ein Tabu brechen

"Drehtüreneffekt": Jugendlicher auf dem Weg zum Regionalen Arbeitsvermittlungs-Zentrum. Keystone

In der Schweiz sind immer häufiger Kinder auf Sozialhilfe angewiesen. Jugendliche haben immer mehr Mühe, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration der jungen Generation harzt derzeit. Eine Tagung in Biel hat nach Lösungen des Problems gesucht.

In der Schweiz beziehen immer mehr Menschen Sozialhilfe. Von Armut sind vor allem Kinder und Jugendliche betroffen. 2004 machten sie 45% aller Sozialhilfe-Empfänger aus. In grossstädtischen Zentren ist die Zahl besonders hoch.

Um dieses Problem anzugehen, muss nach Ansicht der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ), die die zweitägige Bieler Tagung organisierte, zunächst einmal anerkannt werden, dass Kinder- und Jugendarmut tatsächlich existiert.

Wirtschaftliches und gesellschaftliches Problem

“Heute finden wir zunehmend Erwerbslose im ‘besten’ Erwerbstätigkeitsalter, Menschen mit unzureichendem Erwerbseinkommen, allein erziehende Frauen (und manchmal auch Männer), kinderreiche Familien oder Migranten unter den armen Haushalten”, sagte der Sozialgeograf Matthias Drilling an der Bieler Tagung.

Dabei handle es sich nicht nur um ein konjunkturelles und rein wirtschaftliches Phänomen. Es sei ein gesellschaftliches Problem, das nicht individuell gelöst werden könne, so Drilling gegenüber swissinfo.

Wenn man den Bereich der Sozialhilfe anschaue, könne man feststellen, dass sich die Struktur der Bezüger verjüngt habe. “Das sind vor allem eben die Kinder, die Jugendlichen und gleich anschliessend die jungen Erwachsenen.”

“Drehtüreffekte”

Ein Problem sei, das sich die Sozialhilfe ausschliesslich auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränke. “Es geht darum, den Menschen vor allem von der Sozialhilfe abzulösen. Wohin, das ist dann meistens die zweite Frage.” Viele junge Leute landeten dann oft in einem Arbeitsprogramm oder in einem Betrieb, aber nur für vorübergehende, kurze Zeit oder als Taglöhner.

“Das ist eigentlich keine Perspektive für einen jungen Menschen. Dann kommen eben die Drehtüreffekte: von der Sozialhilfe zum Arbeitsamt, kurzer temporärer Job, dann wieder Sozialhilfe usw. Ein Kreislauf, der nicht so einfach zu durchbrechen ist”, erklärt Drilling.

Gefordert sei eine bessere Zusammenarbeit zwischen Arbeitsamt, Sozialhilfe und Berufsbildung.

Keine Identifikation mit Armut

70’000 Kinder und Jugendliche werden in der Schweiz von der Fürsorge unterstützt. Doch selten zeigt sich eine Identifikation mit dem Begriff Armut. Zu diesem Schluss kommt eine an der Bieler Tagung vorgestellte Studie, die auf Interviews von Vertrauenspersonen mit Kindern und Jugendlichen in der Schweiz basiert.

“Dass sich arme Kinder und Jugendliche selten arm fühlen, hat uns überrascht”, sagt Sozialarbeiter Franz Kohler, einer der Projektleiter, gegenüber swissinfo. “Wir hatten eher Betroffenheit erwartet.”

Verdrängungs-Mechanismus oder “basic skills”?

“Wenn die armen Jugendlichen ihre Situation wirklich verdrängen würden, hätte in irgendeiner Form spürbar werden müssen, dass sie dennoch leiden. Das haben wir aber nicht festgestellt”, erklärt Kohler. Man könne daraus interpretieren, dass das Schutzsystem von Familie und Schule so gut funktioniere, dass diese Betroffenheit nicht auftauche. Zudem hätten die Kinder gelernt, mit dem zu leben, was ihnen zur Verfügung steht.

“Wenn ich die Potenziale, die Lust bei den Jugendlichen sehe, ihre Situation zu verarbeiten, dann muss ich sagen, da sind auch fundamentale Ressourcen, ‘basic skills’, vorhanden – Chancen, die es zu nutzen gilt”, so Kohler.

Keine positiven Väter-Bilder

Die Studie zeigt, dass sich vor allem (allein erziehende) Frauen aufopfern für ihre Kinder und ihnen alles geben, damit sie nicht als arm erscheinen. Und die Väter?

Franz Kohler: “Die haben wir kaum erlebt in den Interviews. Wenn sie überhaupt erwähnt werden, dann im negativen Sinn: Papa war im Gefängnis, Papa ist Alkoholiker, Papa hat Gewalt angewendet. Ein positives Bild eines Vaters ist leider nicht vorgekommen.”

Strukturelle Lösungen

Aus der Studie ergibt sich für Kohler, dass Massnahmen zur Stützung der Familiensysteme offensichtlich bei den Eltern, vor allem bei den Müttern ansetzen müssen.

Und weil der Übergang von der Schule in die Berufswelt ein Schlüsselmoment im Leben eines Jugendlichen sei, sollte man insbesondere arme Jugendliche dabei enger begleiten.

Auch Matthias Drilling plädiert für eine engere Begleitung der Jungen in dieser Lebensphase. Heute kümmerten sich die Sozialämter in der Regel nicht speziell um die Kinder einer von der Fürsorge abhängigen Familie. Um ihnen den Übertritt in die Berufswelt zu erleichtern, müssten sie ihnen bereits während der letzten Schuljahre zur Seite stehen.

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Die 3. nationale Armutsstudie (Daten von 1992) berechnet die Armutsquote für die Schweiz je nach Armutsdefinition zwischen 4,8% und 11,4%, was 390’000 bis 710’000 Arme bedeutet.

Bei der jüngsten betrachteten Altersgruppe (20 bis 29) ist die Armutsquote mit 8,3% überdurchschnittlich hoch.

Die Armutsquote ist am höchsten für Alleinerziehende (20,2%), bei Paaren mit drei und mehr Kindern beträgt sie 15,3%.

In der Schweiz leben heute, je nach Grenzwert, zwischen 111’000 und 230’000 Kinder in einem armen Haushalt, das ist jedes 14. bzw. jedes 6. Kind.

Im Jahr 2004 bezogen rund 220’000 Personen Sozialhilfe-Leistungen (3% der Bevölkerung). Am höchsten ist die Quote bei den Kindern bis 10 Jahre, gefolgt von den Jugendlichen. 70’000 Kinder und Jugendliche werden von der Fürsorge unterstützt.

Die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen (EKJ) wurde am 5. Juni 1978 vom Bundesrat, der Schweizer Regierung, eingesetzt. Ihr Auftrag hat sich seither in den Grundzügen nicht verändert und wurde im Bundesgesetz über die Förderung der ausserschulischen Jugendarbeit vom 6. Oktober 1989 gesetzlich verankert.

Durch einen Bundesratsbeschluss vom 26. 09. 2003 wurde das Mandat der EKJ erweitert, und sie heisst nun Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ).

Als ausserparlamentarische Kommission berät die EKKJ den Bundesrat und andere Bundesbehörden. Dadurch hat sie die Möglichkeit, Anliegen und Ansprüche der Jugend direkt in die verschiedenen Entscheidungsprozesse einzubringen.

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