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Krebs zerstört sozialen Zusammenhang der Zellen

Zellbiologe Eduardo Moreno untersucht, warum Krebs den sozialen Zusammenhalt der Zellen zerstört. swissinfo.ch

Ein Forschungsteam der Abteilung für Zellbiologie an der Universität Bern hat entdeckt, wie Krebs den sozialen Zusammenhalt zwischen den Zellen zerstört. Nun wollen die Wissenschaftler herausfinden, wie dieser Prozess gebremst werden kann.

Am 4. Februar 2012, am Welt-Krebstag, wird weltweit über Themen der Krebsforschung informiert. Im letzten Oktober erhielt der Zellbiologe Eduardo Moreno von der Universität Bern den Josef Steiner-Preis, den “Nobelpreis für Krebsforschung”. Seine Forschungen haben dazu beigetragen, die Anfangsstadien der Zellveränderung zu verstehen, die zu Krebsbildung führen.

In einer nächsten Etappe will Moreno herausfinden, welche Gene oder Moleküle an diesen Veränderungen beteiligt sind. So könnten neue Technologien entwickelt werden, um Geschwüre früher als bisher zu entdecken und zu behandeln.

Laut dem Doktor der Zellbiologie befinden wir uns vielleicht am Anfang einer Reihe von Entdeckungen, um die sozialen Beziehungen zwischen den Zellen unseres Körpers und wie diese von Krebs gestört werden, besser zu verstehen.

swissinfo.ch: Ihr Forschungsteam hat bewiesen, dass sozialer Zusammenhalt nicht nur eine politische Angelegenheit, sondern auch für den Ausbruch eines Tumors sehr bedeutsam ist.

Eduardo Moreno: Richtig, die Zellen unseres Körpers müssen gewisse soziale Beziehungen haben und Krebs zerstört sie.

Mich interessiert es zu wissen, wie die Billionen von Zellen, aus welchen unser Körper besteht, einen sozialen Zusammenhalt bilden, der sehr wirksam arbeitet. Wie entscheidet diese Billion von Individuen – jede Zelle kann ja auch allein leben – , zusammenzuarbeiten und einen neuen Organismus zu bilden?

Unser Forschungsteam hat beobachtet, wie dieser soziale Zusammenhalt manchmal zerstört wird, weil die Gene, die diesen aufrecht erhalten, mutieren oder nicht mehr angemessen funktionieren. Dies führt zu Krebs oder anderen Veränderungen.

swissinfo.ch: Sie sind Zellbiologe und nicht Krebsforscher. Warum sind Sie der gegenwärtige “Nobelpreisträger für Krebsforschung”?

E.M.: Mein Interesse ist grundsätzlich: Ich möchte wissen, wie der menschliche Körper diese Gesellschaft von Zellen mit den Auswirkungen von Krankheiten wie Krebs aufrecht erhält.

Der Grund für die Auszeichnung ist die Entdeckung, dass die Frühstadien des Krebs wahrscheinlich auf den Bruch der Zusammenarbeit zwischen den Zellen zurückzuführen sind.

swissinfo.ch: Diese Forschung ist grundlegend?

E.M.: Richtig. Es geht darum zu verstehen, wie sich Zellen untereinander verständigen. Wir Menschen benützen als Verständigungsmittel zur Zusammenarbeit die Sprache.

Für die Zellen sind das entsprechende Mittel die Gene, Moleküle und Proteine. Wenn diese Verständigung fehlschlägt oder sie abweichend wird, sodass einige Zellen nicht mehr tun, was andere von ihnen verlangen, dann kommt es zu Krankheiten.

swissinfo.ch: Können Sie in einfachen Worten Ihre Entdeckung über die Konkurrenz zwischen Zellen erläutern?

E.M. Wir haben zur Entdeckung beigetragen, wie normale Zellen erkennen, dass die benachbarte Zelle anders oder gefährlich ist und wie sie von den normalen eliminiert wird. Dieses System des sozialen Zusammenhalts oder der Überwachung benachbarter Zellen bezeichnen wir als “Flower Code” in Analogie zu den “blumigen Kriegen” zwischen den Azteken und ihren Nachbarn vor der Ankunft der spanischen Eroberer im heutigen Mexiko.

Diese Zusammenstösse hatten die Eigenheit, dass Gewinner und Verlierer sich nicht auf dem Schlachtfeld umbrachten. Der Verlierer wurde gefangen genommen und blau angemalt. Wenn während des anschliessenden Rituals gewisse Ereignisse eintraten, wurde er zur Besänftigung der Götter geopfert.

Auf ähnliche Weise benützen gesunde Zellen in diesem Kampf zur Eliminierung gefährlicher Zellen oder solcher, die nicht tun, was sie sollten, einen Code, der an die “blumigen Kriege” erinnert: Sie kennzeichnen die Verlierer mit einem Molekül.

Wenn das Molekül die Zelle als problematisch oder von minderer Qualität kennzeichnet, dann nimmt diese Kontakt mit anderen Zellen auf, um zu entscheiden, ob sie eliminiert werden sollte oder mit der Kennzeichnung weiterbestehen könnte, da der Schaden nur vorübergehend wäre und sie sich erholen würde. Es ist ein System des “sozialen” Tods. Die Zelle wird nicht zerstört, wenn sie von anderen umgeben ist, die dasselbe Kennzeichen tragen.

Das Konzept der Zerstörung der schwächeren  zugunsten der stärkeren Zellen ist die Grundlage für die Konkurrenz zwischen Zellen.

swissinfo.ch: Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesem Wettbewerb und dem Beginn eines Tumors?

E.M.: Normalerweise ist dieser soziale Code vorteilhaft, denn er erlaubt, die besten Zellen einer Bevölkerung auszuwählen. Von Zellen im Krebsvorstadium kann er jedoch falsch benützt werden.

Wir nennen diese veränderten, hyperaktiven und sehr individualistischen Zellen “Super-Konkurrenten”. Sie benützen den “Flower Code”, um gesunden Zellen vorzumachen, dass sie die Verliererinnen sind und überzeugen sie zu verschwinden. So töten sie gesunde Zellen, dringen in normales Gewebe ein und zerstören Organe.

swissinfo.ch: Mit der Entdeckung dieses Codes taucht Ihr Forschungsteam in einen unbekannten Mikrokosmos ein. Was folgt nun?

E.M.: Wir wollen versuchen, diese schlecht angewandte Verständigung oder diesen Krieg zwischen Molekülen zu ändern, um den Kampf des Krebs gegen normales Gewebe zu stoppen. Wir wollen erforschen, ob das Wachstum eines Geschwürs gestoppt werden kann, wenn wir die Moleküle des “Flower Codes” abbauen oder blockieren.

Weiter interessiert uns sehr zu wissen, wie die Zellen den “Flower Code” ihrer Nachbarzellen lesen. Wir haben das Molekül entdeckt, das sie als Gewinnerinnen oder Verliererinnen kennzeichnet, aber wir kennen das Molekül noch nicht, das diese Zeichen lesen kann. Graphisch ausgedrückt: Wir kennen die Farbe, aber wir wissen nicht, welches molekulare Auge sie sehen kann.

swissinfo.ch: Es überwiegt also noch immer grosse Unkenntnis betreffend den Beginn der Zellveränderungen, die Krebs auslösen?

E.M.: Wenn ein Arzt mit der heute zur Verfügung stehenden Technik Krebs diagnostiziert, dann sind bereits Hunderttausende von Zellen betroffen. Doch der Grossteil der Krebskrankheiten beginnt mit einer einzigen Zelle, die Mutationen anhäuft. Eine Zelle ist sehr klein und unser Körper besteht aus Billionen davon.

swissinfo.ch: Wie gross ist ein kleiner vom Arzt diagnostizierter Tumor in den Augen eines Zellbiologen?

E.M.: Was Pathologen als “kleines Geschwür” bezeichnen, betrifft tausend Millionen Zellen, das kleinste, das man bisher identifizieren kann. Anders gesagt: Den ganzen Prozess nach der Teilung der ersten bösartigen Zelle, der dann zu einem Krebsgeschwür führt, können wir nicht entdecken, bis dieses eine genügende Grösse erreicht hat.

75% des Wachstums, der Verdoppelung der Zellbevölkerung im Vorkrebs- oder Krebsstadium erfolgen, bevor der Tumor eine entdeckbare Grösse erreicht hat.

Dieses erste Fenster kennen wir nicht. Dies hat leider zur Folge, dass die Fälle spät erkannt werden. Ein Geschwür kann während Jahren oder Jahrzehnten wachsen, ohne entdeckt zu werden.

swissinfo.ch: Im Fall eines Tumors wiegt diese Verspätung schwer?

E.M.: Ja. Wir hoffen, dass unsere Grundlagenforschung langfristig klinische Bedeutung haben wird und in 10 oder 20 Jahren unsere Kinder davon profitieren können. Die Wissenschaft muss weiter Fortschritte machen, denn man darf nicht vergessen, dass immer mehr Krebsarten geheilt werden können. Die Diagnosetechniken haben sich verbessert und immer mehr Krebskranke überleben.

Er ist der erste Forscher der Universität Bern, der mit dem internationalen Preis der Stiftung Dr. Josef Steiner oder dem “Nobelpreis für Krebsforschung” von einer Million Franken ausgezeichnet wurde.

Der 41-jährige Wissenschaftler spanischer Herkunft teilt den Preis mit Professor Christoph Klein von der Universität Regensburg (Deutschland).

Seit anfangs 2011 leitet Moreno an der Abteilung für Zellbiologie der Universität Bern ein multikulturelles Forschungsteam. Die Pionierforschung beschäftigt sich mit dem sozialen Zusammenhalt zwischen den Zellen und der Analyse von Stammzellen.

Moreno studierte an der Autonomen Universität von Madrid und doktorierte am Zentrum für Molekularbiologie Severo Ochoa (Madrid).

Von 2001 – 2004 arbeitete er am Institut für Molekularwissenschaft der Universität Zürich und von 2004 – 2010 war er der Hauptforscher am Nationalen Krebsforschungszentrum in Madrid.

Für seine Forschungen wurden Moreno bisher  6 Preise verliehen.

Hauptsächliche Todesursache auf globaler Ebene.

Lungen-, Magen-, Leber-, Dickdarm- und Brustkrebs sind diejenigen Krebsarten, die jährlich die meisten Todesopfer fordern

Krebs beginnt in einer einzigen Zelle

Die Veränderung einer normalen Zelle in eine Krebszelle durchläuft verschiedene Phasen von einem Vorkrebsstadium bis zum bösartigen Geschwür.

Krebs ist ein Prozess unkontrollierten Wachstums und Vermehrung von Zellen

Krebs kann irgendwo im Körper seinen Anfang nehmen. Das Geschwür beschädigt das umliegende Gewebe und kann in entfernten Körperteilen Metastasen bilden.

Ein Grossteil der Krebsarten kann heute mit Chirurgie, Bestrahlung und Chemotherapie behandelt werden, wenn sie frühzeitig erkannt werden.

Am 4.Februar wird der Welttag gegen Krebs gefeiert.

Jährlich gibt es 36’000 neue Erkrankungen und 15’600 Todesfälle

Häufigste Krebsarten bei Männern:

Prostata:        29,6%
Lunge:           12,5%
Dickdarm:      11,3%
Melanom:        4,8%

Häufigste Krebsarten bei Frauen:

Brust:            31,9%
Dickdarm:      11,1%
Lunge:             7,6%
Melanom:        5,8%

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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