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Der Schweizer Chirurg, der Marokkos Wüste begrünen wollte

Marokkanischer Mann
Labbas Sbaï gehört einer grossen Saharafamilie an, die aus der Westsahara stammt. Ian Hamel

Der schweizerisch-marokkanische Arzt Labbas Sbaï wurde vor kurzem aus dem Gefängnis in Zagora im Süden Marokkos entlassen. Was hat er verbrochen? Er prangerte unermüdlich den illegalen Handel und die Korruption in dieser abgelegenen Region nahe der algerischen Grenze an. Der Chirurg ist vor allem einer der Pioniere des ökologischen Tourismus in der Sahara.

Die Oase Umm Lâalag, fünfzig Kilometer entfernt von M’hamid El Ghizlane, einem Dorf im Süden Marokkos, ist ebenso einladend wie winzig. Ein paar Palmen und ein dünnes, von Fröschen bevölkertes Bächlein mitten in der Wüste, draussen im Nirgendwo. Hier wurde Labbas Sbaï vor 67 Jahren geboren. Und hier wuchs der schweizerisch-marokkanische Doppelbürger auf.

“Als ich ein Kind war, wagte ich mich nicht allein in die Oase, weil die Vegetation so dicht war und es in den Bäumen nur so von Tieren wimmelte”, erzählte uns Sbaï bei einem Besuch in der Oase im Jahr 2010.

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Labbas und sein Bruder Ali waren die ersten Kinder einer Nomadenfamilie, welche die Grundschule in M’hamid El Ghizlane besuchten. Nach einem Universitätsstudium in der damaligen UdSSR liessen sich die beiden Brüder in der Schweiz nieder.

Labbas wird Chirurg, heiratet Marianne, eine Lehrerin aus Bern. Sie haben zwei Kinder, Amina und Selim. Ali arbeitet als Beamter bei einer internationalen Organisation in Genf. Nach der Einbürgerung in der Schweiz arbeitet Labbas in Krankenhäusern in Lausanne, Freiburg, Neuenburg und Bern.

Ein Naturschutzgebiet

Sollte man das den Ruf der Wüste nennen? In den 2000er Jahren kehrt Labbas in den Süden Marokkos zurück, um sich im Ökotourismus zu engagieren. Sein Ziel ist es, die Oase Umm Lâalag wieder zu begrünen, die vom Wüstensand eingenommen wurde.

Im Süden Marokkos ist die Wüstenbildung aufgrund der globalen Erwärmung sehr schnell vorangeschritten. Im Jahr 1949 verschwand der letzte Strauss. 1960 gab es keine Hyänen mehr.

1970 mussten die Wüstennomaden mit ansehen, wie das Wasser des dreissig Kilometer langen und zwanzig Kilometer breiten Iriki-Sees innerhalb weniger Monate verdunstete. Die Zugvögel verliessen daraufhin diese Region an der Grenze zu Algerien.

Oase
Die Oase Umm Lâalag, fünfzig Kilometer von M’hamid El Ghizlane entfernt, einem Dorf im Süden Marokkos. Ian Hamel

“Ich habe damit begonnen, ein Naturschutzgebiet zu schaffen. Einen Ort, an dem die Vegetation, die Tiere und die Menschen von einem geschützten und unberührten Fleckchen Erde profitieren können”, sagte der Arzt bei unserem ersten Treffen. Die Oase beherbergt nun Gazellen, Fenneks und Wüstenhühner. “Und manchmal sogar Schakale, sofern sie nicht die Ziegen angreifen”, bemerkte er lächelnd.

Der Pionier des marokkanischen Ökotourismus ist zwar Marokkaner, aber auch Schweizer. “Und wenn man in der Schweiz gelebt hat, kann man nicht die Augen vor gewissen Praktiken verschliessen. Über die Absprachen zwischen Drogenhändlern und einigen lokalen Verantwortlichen. Ich habe den Zigaretten- und Drogenschmuggel sowie Kameldiebstähle angezeigt. Die Behörden rieten mir, die Augen zu schliessen und einfach nur Geschäfte zu machen. Das wollte ich aber nicht”, sagt der Arzt.

In der Folge wird er 2006 wegen “Missachtung des Gerichts” und “Störung der öffentlichen Ordnung” zum ersten Mal inhaftiert. Sbaï wird in Ouarzazate inhaftiert, einer Stadt im Süden des Landes. Unter dem Druck der Bevölkerung, die vor dem Gefängnis demonstriert, wird er aber bald wieder freigelassen.

Im Jahr 2010 wird er erneut verhaftet. Diesmal tritt er in den Hungerstreik und wird erneut freigelassen. Seine Probleme gehen aber weiter.

“Gleichzeitig haben sich die lokalen Behörden gegen ihn verschworen, um ihn all seiner Besitztümer zu berauben, besonders der Oase Umm Lâalag, die unserer Familie gehört”, klagt sein Bruder Ali Sbaï in einem offenen Brief mit dem Titel “Die Kämpfe eines Verteidigers einer vergessenen Region” an. Er wurde am 14. Juni im Namen des Unterstützungskomitees von Dr. Labbas Sbaï verschickt.

Im Gefängnis heftig geschlagen

Der unermüdliche, 67-jährige Labbas Sbaï übernimmt Anfang 2022 die Leitung eines Wachsamkeitskomitees der Nomadinnen und Nomaden in der Region, um die Landenteignungen einiger Stämme und Kameldiebstähle anzuprangern.

Am 26. Mai 2022 wird er erneut vor Gericht gestellt – wegen “Beleidigung”. Er wird zu zwei Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Vor dem Gerichtsgebäude rufen die Menschen: “Wir sind alle Labbas”, “Lasst Labbas frei” oder “Wacht auf, die Korruption ist alltäglich und auf allen Ebenen”. Er wird im Gefängnis von Zagora inhaftiert, einer anderen Stadt im Süden Marokkos.

Am 27. Mai erhält Ibrahim, ein anderer seiner Brüder, der in Marokko lebt, einen verzweifelten Telefonanruf von Labbas: “Ich wurde geschlagen, ich wurde geschlagen, ich habe zweimal das Bewusstsein verloren … Hier ist Guantanamo, hier ist Abu Ghraib …”

Der Arzt klagt über sehr starke Kopfschmerzen. Ali Sbaï verlässt daraufhin Genf und reist nach Zagora. Am 31. Mai wird er vom Gefängnisdirektor empfangen, der ihm versichert, dass es Labbas gut gehe und er ein Einzelzimmer mit Dusche und Fernseher habe.

Der Gefangene erzählte seinem Bruder, dass er am Tag nach seiner Inhaftierung gegürtet und über eine halbe Stunde lang verprügelt worden sei. Er hatte starke Kopfschmerzen und bat um eine Computertomographie. Der Gefängnisdirektor musste zugeben, dass der Chirurg zwar geschlagen wurde, “aber unbeabsichtigt, aufgrund eines Missverständnisses mit einem Wärter […] Wir haben den Vorfall untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass er nicht weiter verfolgt werden muss…”, versicherte er Ali Sbaï.

Das Schicksal der Westsahara

Der Gesundheitszustand des Gefangenen verschlechtert sich jedoch immer weiter. “Er befindet sich in einem Zustand des Halbkomas, ist hager und spricht kein Wort. Er kann sich nicht bewegen oder auf das reagieren, was er sieht”, sagt Ibrahim Sbaï.

Kaum ist Ali in die Schweiz zurückgekehrt, teilt er SWI swissinfo.ch mit, dass er am 18. Juni einen Flug von Genf nach Marrakesch nehmen werde. Diesmal wird er begleitet von Selim und Amina, den beiden Kindern des Arztes, seinem sieben Monate alten Enkel Elia und Samuel Lehmann, Aminas Lebensgefährten.

“Wir sind sehr besorgt über den Gesundheitszustand unseres Vaters. Wir wissen immer noch nicht, ob die Gefängnisbehörden in Zagora uns erlauben werden, ihn zu sehen”, sagt uns Selim Sbaï am Genfer Flughafen. Doch am Montag, dem 20. Juni, kommt es zu einer überraschenden Wendung: Labbas Sbaï wird ohne Erklärung freigelassen.

Er ist sehr geschwächt und konnte seit seiner Freilassung nicht mehr mit swissinfo.ch sprechen. Er befindet sich derzeit in einem Krankenhaus in Marrakesch. Am Freitag, den 24. Juni, schickt uns sein Bruder Ali eine kurze Nachricht: “Es ist schrecklich, was Labbas erlebt hat.”

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) blieb nicht untätig und erklärte gegenüber swissinfo.ch, dass es “in Kontakt mit Herrn Sbaï und seiner Familie sowie mit den lokalen Behörden” stehe.

Die Schweizer Botschaft in Rabat intervenierte beim Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, afrikanische Zusammenarbeit und im Ausland lebende Marokkanerinnen und Marokkaner des Königreichs Marokko sowie zweimal bei der Generaldelegation für die Gefängnisverwaltung und Wiedereingliederung (DGAPR).

Die örtlichen Behörden hüllen sich in Schweigen. Hätte sich der Gesundheitszustand von Sbaï nämlich weiter verschlechtert, hätte dies nicht nur für die Gefängnisleitung, sondern auch für die lokale Justiz schwerwiegende Folgen haben können. Der Chirurg gehört nämlich einer grossen Saharafamilie an, die aus der Westsahara stammt.

Die ehemalige spanische Kolonie, die 1976 von Marokko annektiert wurde, wird nach wie vor von der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) beansprucht, die unter dem Namen Polisario-Front bekannt ist und von Algerien unterstützt wird.

Labbas, der sich zu keiner Verbindung zu dieser politischen Gruppe bekannt hat, könnte zu einem Spielball werden, um die Diskriminierung zu demonstrieren, der diese Minderheit nach eigenen Angaben durch das marokkanische Regime ausgesetzt ist.

Bei einem anderen Treffen im Süden des Königreichs im Jahr 2011 erzählte uns der Arzt, dass sein Vater sogar ein Freund von Mohamed V. gewesen sei, dem Grossvater des heutigen Herrschers.

“Im Februar 1958 kam der marokkanische König sogar zu einem offiziellen Besuch nach M’hamid El Ghizlane, das damals noch ein winziges Dorf war. Als der König meinen Vater fragte, was er wolle, antwortete er: ‘Ich brauche nichts'”, erzählte Labbas Sbaï und zog ein altes, vergilbtes Foto von dem Ereignis hervor.

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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