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Landschaft in der Nacht

Das künstliche Licht verändert die Nacht-Landschaft. Markus Wiesmann

Erstmals hat sich ein Forschungs-Projekt mit der nächtlichen Landschaft befasst. Während eines Nachtspaziergangs von Chiasso auf den Monte Generoso wurden die Resultate vorgestellt.

Eingeladen hatte die Akademie für Architektur in Mendrisio. Gastgeber war der Architekt Peter Zumthor.

“Fiat Lux”, ein interdisziplinäres, wissenschaftliches Projekt, hat sich eine ungewöhliche Art einfallen lassen, die Forschungsresultate zu präsentieren: auf einem Nachtspaziergang.

300 Meter Plastikfolie machen aus einem trostlosen Ort mitten in Chiasso einen einmaligen Treffpunkt. Für einen Abend wurde eine Autobahnbrücke in eine Bar umgestaltet.

Ein städtischer Ort, hell erleuchtet von Strassenlampen und den Lichtern der vorbeifahrenden Autos. Gegen 100 Gäste treffen nach und nach ein. Schliesslich erscheint auch der Gastgeber des Abends, Peter Zumthor, Architekt und Professor an der Tessiner Akademie für Architektur.

Die Farben der Nacht

Postautos verfrachten die ganze Gesellschaft vom hellen Chiasso ins dunkle Valle di Muggio.

Kein Mond scheint, dafür immer mehr Sterne. Die Schritte werden langsamer, vorsichtiger, doch das Auge gewöhnt sich. Die Dunkelheit hat Nuancen, sogar Farben. Lichter in der Ferne schimmern blau, gelb oder weiss, scheinen grell oder gedämpft.

Lichtspiele am Weg

Die Wanderung dauert mehrere Stunden, bis zum Sonnenaufgang, führt durch Wälder und Alpweiden, am Weg immer wieder Überraschungen: Kerzen im Bachbett, Laternen mit historischen Aufnahmen von Städten und Landschaften im Tessin, Schattenspiele mit flackerndem Licht, Satellitenbilder, projiziert auf die Kirche im Weiler Tur.

Künstlerisch-ästhetisch, sinnlich erfahrbar, ohne grosse Erklärungen, so lautet das Konzept dieser Nacht. Nur soviel lässt sich Peter Zumthor doch noch entlocken: “Mir war der sorgfältige Umgang mit der Dunkelheit schon immer sehr wichtig.”

Interdisziplinäres Projekt

Bisher war Landschaft in der Wissenschaft immer nur als Taglandschaft untersucht worden. Jon Mathieu, Historiker vom Istituto di Storia delle Alpi (ISAlp) der Università della Svizzera italiana initiierte erstmals ein Projekt zur Erforschung der Nachtlandschaft.

Beteiligt sind die Disziplinen Geschichte, Geographie, Soziologie und Architektur. Den sinnlichen Nachtspaziergang gestalteten die Architekten.

Schleichende Veränderung

Nicht alle Resultate des Forschungsprojektes liessen sich so vermitteln, meint Jon Mathieu. “Die Präsentation durch die Architektur macht aber neugierig, und vielleicht will ja dann jemand auch mehr von den Historikern und den anderen Wissenschaftern wissen.”

Zum Beispiel die Geschichte der öffentlichen Beleuchtung. Im Dorf Maggia etwa brannten 1950 erst zwei Lampen à 40 Watt. 50 Jahre später waren es schon 162 Lampen, alle mit höherer Leistung.

“Die Nachtlandschaft hat sich durch die Zunahme des künstlichen Lichtes wohl stärker verändert als die Landschaft am Tag”, betont der Projektleiter.

Licht aus am 1. August

Und wenn früher die Beleuchtung oft auf einen besonderen Anlass wies, so wurde sie mehr und mehr alltäglich, oder eben allnächtlich. In Lugano habe man bis 1970 die Leute aufgefordert, zum Fest die Lichter anzudrehen. Heute werden sie gebeten, am 1. August die Lichter zu löschen, damit man das Feuerwerk besser sieht.

Das soziale Leben verlagerte sich in die Nacht hinein. Dieser Prozess geschah schleichend, und stiess kaum auf Widerstand. “Licht wurde lange Zeit mit Fortschritt und Wohlstand assoziiert.”

Kulturgut Himmel

Trotzdem scheinen sich viele auch der Nachteile bewusst zu sein. “Die Leute sind mehrheitlich sehr sensibilisiert und betrachten den Himmel als eine Art Kulturgut”, sagt die Soziologin Ruth Hungerbühler.

Die Leute erzählten ihr, wie sie die Nacht wahrnehmen, vom Reiz des Lichtes, oder der existentiellen Erfahrung, wenn man in den Himmel schaut und sich als Teil des Universums begreift, aber auch von der Zunahme der künstlichen Beleuchtung, so dass man die Sterne kaum mehr sehe und der dadurch bedingten Verarmung der Erlebniswelt.

Geblendete Vögel

Wie gross die Veränderungen sind, zeigen auch die nächtlichen Satellitenbilder, die am geographischen Institut der Universität Bern ausgewertet wurden. Kunstlicht nahm nicht nur in den wachsenden Städten zu, sondern auch in Alpentälern, wo die Bevölkerung eigentlich zurückging.

Dieses Licht behindert nicht nur den Blick in den Himmel. Es stört auch die Tiere, vor allem die Zugvögel, die meistens nachts unterwegs sind und sich durch das Kunstlicht vom Weg abbringen lassen.

swissinfo, Antoinette Schwab

Das Projekt “Fiat Lux” ist Teil des Nationalen Forschungsprogrammes NFP 48 “Landschaften und Lebensräume der Alpen”.
Am interdisziplinären Projekt beteiligten sich Forschende aus den Disziplinen Geschichte, Soziologie, Geographie und Architektur.
Die Federführung lag beim Istituto di Storia delle Alpi der Università della Svizzera italiana.

Landschaft wurde bisher immer als Taglandschaft verstanden.

Doch die nächtliche Landschaft hat ein eigenes Gesicht, das sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat.

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt “Fiat Lux” befasst sich erstmals wissenschaftlich mit der Nachtlandschaft im Alpenraum.

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