Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

10 Jahre Halifax: Die Lehren aus dem Swissair-Drama

Ein Jahr nach dem Crash vom 2. September 1998 versammelten sich die Verwandten und Freunde der Absturzopfer in Peggy's Cove. Keystone

Der Freiburger Jean Overney, ehemaliger Direktor des Büros für Flugunfalluntersuchungen, war einer der ersten Schweizer am Absturzort am 3. September 1998, um 3 Uhr morgens. Für ihn war es "eine aussergewöhnliche, einmalige Luftfahrtkatastrophe".

Jean Overney (62) war erst fünf Monate im Amt, als er in der Nacht auf den 3. September 1998 den Anruf erhielt, eine Swissair-Maschine des Typs MD-11 sei auf dem Kursflug SR 111 von New York nach Genf vor Peggy’s Cove bei Halifax an der Ostküste Kanadas ins Meer abgestürzt. Alle 229 Flugzeuginsassen waren tot.

Alle Erkenntnisse des Untersuchungsberichtes zur Absturzursache waren für den Freiburger Ingenieur und Piloten nützlich und wichtig zum Umgang mit weiteren Flugzeugkatastrophen: die Crossair-Abstürze bei Nassenwil und Bassersdorf sowie der Zusammenprall in der Luft eines Passagier- mit einem Cargo-Flugzeug bei Ueberlingen.

Overney hat die Leitung des Büros für Flugunfalluntersuchungen (BEAA) letzten Mai abgegeben. Er arbeitet mit einem 50%-Pensum weiter als Berater, was ihm auch erlaubt, seinen Nachfolger einzuführen.

swissinfo: Wie haben Sie den Absturz des Swissair-Fluges SR 111 erfahren?

Jean Overney: Ich war mit meiner Familie in den Ferien, 60 Kilometer von New York entfernt, in Richtung Boston. Ein Journalist des Westschweizer Radios rief mich im Hotel an. Ich hatte die Leitung des BEAA erst fünf Monate zuvor übernommen – es war, als ob die ganze Welt um mich herum einstürzen würde.

Ich sprang in ein Auto, flog dann sofort mit einem von der Swissair reservierten Flug von Boston nach Halifax. Ich war fast zur gleichen Zeit am Absturzort wie das kanadische Untersuchungsteam, das überrascht war, wie schnell ich an Ort eintraf.

swissinfo: Was war Ihre erste Aufgabe dort?

J. O.: Ich musste das Untersuchungsteam einsetzen. Zuerst ging es um die Bergung der Leichen. Ich bin alles in allem zwanzig Mal nach Kanada gegangen. Zwei Mitarbeiter des BEAA beteiligten sich an der Untersuchung.

swissinfo: Wie lief die Zusammenarbeit ihres Amtes mit der Swissair?

J. O.: Wir sind keine Untersuchungsrichter. Unsere Aufgabe ist es, Funktionsstörungen herauszufinden und aufzudecken.

Die Swissair und der Wartungsdienst SR Technics haben hervorragend mit uns zusammengearbeitet. Sie haben uns immer sehr rasch die nötigen Dokumente geliefert. SR Technics hat einen ehemaligen MD-11-Experten in Pension für die Leitung des Untersuchungsteams engagiert.

swissinfo: Was hat Ihnen die Untersuchung auf der beruflichen Ebene gebracht?

J. O.: Wir haben neue Techniken gelernt, zum Beispiel das Reparieren von Informatik-Aufzeichnungen.

Und wir haben auch ausserordentlich gut gelernt, wie man mit den Medien umgehen muss. Die Kanadier hatten einige Jahre früher sehr schlechte Erfahrungen gemacht und haben daraus ihre Lehren gezogen. Man muss offen sein mit den Medien.

Zudem war die Zusammenarbeit mit dem kanadischen Untersuchungsteam problemlos, wie das in solchen Fällen fast immer abläuft.

swissinfo: Und als Privatperson?

J. O.: Zuerst ist zu sagen, dass das Berufliche vom Privaten getrennt werden muss. Ich musste lernen, mit meinen Emotionen umzugehen, wie man sich gegenüber den Familienangehörigen der Opfer verhält. Wir haben begriffen, dass man nicht zu viele Leute gleichzeitig versammeln sollte.

Es gab schreckliche Dramen. Ich erinnere mich an jene Mutter, deren Sohn einen schweren Autounfall hatte und die dann ihrer Tochter das Ticket zum Rückflug von New York in die Schweiz bezahlte…

Aber die Trauer kennt verschiedene Phasen. Zuerst haben die Familien noch Hoffnung. “Es wird eine Überlebende geben, und das wird meine Frau sein”, denkt man. Dann kommt auch oft ein Moment der Ohnmacht, der Wut.

swissinfo: Wut auf Sie?

J. O.: Nein, eher auf die Fluggesellschaft oder den Flugzeughersteller. Unsere Mission als Schweizer Behördenmitglieder dagegen war, die Leute, die sich an uns klammerten, zu beruhigen.

In diesen Fällen hat man fast ein wenig die Funktion eines Priesters: Man tröstet, man hört zu. Man muss jede Bitte ernst nehmen.

swissinfo: Die Untersuchung konnte die wirkliche Ursache der Katastrophe nicht aufdecken. Sind Sie frustriert?

J. O.: Es wäre gut gewesen, wenn wir die Ursache des Kurzschlusses herausgefunden hätten, der in der Verkabelung des elektronischen Bordunterhaltungssystems oberhalb des Cockpits ein Feuer ausgelöst hatte, das sich rasch ausbreitete und die wesentlichen Bordsysteme schnell lahm legte.

In der Regel findet man die wirkliche Ursache von Katastrophen. In diesem Fall hat die Untersuchung zu Entdeckungen geführt, die mich sagen lassen, dass die 229 Flugzeuginsassen nicht umsonst gestorben sind.

swissinfo-Interview: Ariane Gigon
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

Am 2. September 1998 um 00h18 UTC verlässt der SR-Flug 111 New York mit 215 Passagieren und 14 Besatzungsmitgliedern an Bord in Richtung Genf.

53 Minuten später bemerken die Piloten Rauch im Cockpit und verlangen über Funk Landeerlaubnis in Halifax. Die MD-11-Maschine wird dorthin geleitet. Dann bricht die Funkverbindung ab, 6 Minuten vor dem Absturz in den Atlantik vor der Küste von Peggy’s Cove in Neuschottland, Kanada. Alles dauerte 20 Minuten.

Alle 229 Flugzeuginsassen an Bord kommen ums Leben, 136 Amerikaner, 41 Schweizer und 30 Franzosen.

Erst nach über einem Jahr können 98% der Wrackteile gefunden werden. Der Schlussbericht der kanadischen Verkehrssicherheits-Behörde (TSB) wird am 27. März 2003 veröffentlicht.

Nach Angaben des Genfer Anwaltes Christian Lüscher hat die Swissair akzeptiert, den Angehörigen jedes Opfers 198’000 Franken auszuzahlen.

Der Schlussbericht der kanadischen Verkehrssicherheits-Behörde (TSB)rehabilitierte die SR-111-Besatzung. Die Piloten hätten keine Chance gehabt, den Ernst der Lage rechtzeitig zu erkennen.

Mit grösster Wahrscheinlichkeit stand am Anfang der Katastrophe ein 4000 bis 5000 Grad heisser Lichtbogen zwischen elektrischen Kabeln im Bereich der Trennwand zwischen Cockpit und Küche. Der Funke entzündete die Isolationsmatten zwischen der Innen- und Aussenhaut des Flugzeugs. Die Tatsache, dass diese Matten Feuer fangen konnten, bezeichnete die Untersuchungsbehörde als wichtigsten Auslöser des Unglücks.

Der Brand breitete sich zunächst Richtung Kabine aus. Die Piloten nahmen einen seltsamen Geruch wahr und versuchten, die Quelle zu eruieren. Bei diesen Checks legten sie die Ventilation in der Kabine still. Dadurch kehrte sich die Luftströmung um, und das Feuer frass sich unter der Decke rasend schnell bis zum Cockpit vor.

Wegen der Hitze fielen sofort die wichtigsten Instrumente aus. Von der Cockpitdecke tropfte geschmolzenes Aluminium auf die Teppiche. Der längst eingeleitete Notanflug auf Halifax konnte nicht mehr gelingen.

Die TSB gab aufgrund ihrer Untersuchungen insgesamt 23 Sicherheitsempfehlungen ab. Unter anderem müssen seither die Isolationsmatten aus feuerfestem Material gefertigt sein.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft