Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Das Gesetz des Schweigens im Land der Zedern

Libanons Regierung will sich nicht mit der Frage der Verschwundenen befassen.

Ohne die Wahrheit gebe es aber in der Gesellschaft keine Versöhnung, erklärt Habib Nassar, der Vizepräsident des Ausschusses der Familien von Verschwundenen im Libanon im Gespräch mit Vanda Janka.

Während über 30 Jahren wurde der Libanon von Konflikten unterschiedlichster Art heimgesucht. Da war der Bürgerkrieg, da war aber auch die massive Invasion syrischer und israelischer Truppen. So musste das Land bis Ende der 90er Jahre warten, um aus der Krise zu finden. Und noch heute fehlt von rund 17’000 Libanesen jede Spur.

swissinfo: Erschüttert die Frage der Verschwundenen nicht das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen?

Habib Nassar: Die Familien sind zwar die Hauptopfer, aber es ist klar, dass die Frage der Verschwundenen alle Menschen im Land betrifft. Eine Versöhnung in der libanesischen Gesellschaft ist nicht möglich, wenn dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht anerkannt wird.

Die Zahl der während des Kriegs Verschwundenen wird auf 17’000 geschätzt. Diese Leute wurden entführt, massakriert, ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Diese Gewalttaten wurden sowohl von den Milizen wie von den regulären Armeen des Libanon, Syriens und Israels verübt. Man darf die Augen vor einer solchen Tragödie nicht verschliessen.

swissinfo: Welche Haltung nimmt die libanesische Regierung in der Frage der Verschwundenen ein?

H. N: Die derzeitige Regierung verschliesst die Ohren. Schlimmer noch. 1991, kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs, erliess sie ein Amnestiegesetz für Kriegsverbrecher. Diese profitieren nun von einem Schweigerecht. Sie müssen also nicht einmal Informationen zu Entführungsfällen oder über Orte von Massengräbern preisgeben.

Diese Situation ist umso skandalöser, als die Regierung gleichzeitig mit der Amnestie die Situation der Familien der Verschwundenen überhaupt nicht beachtete.

Man bot ihnen nicht einmal psychologische oder materielle Hilfe. Dabei mussten die meisten dieser Familien nach dem Verschwinden ihrer Angehörigen zusätzlich kämpfen mit unüberwindlichen materiellen Schwierigkeiten.

swissinfo: Die Regierung will also die Frage der Verschwundenen ganz bewusst nicht angehen?

H. N: Das ist eindeutig. Zur Rechtfertigung versucht die Regierung, der Bevölkerung zu versichern, dass die Versöhnung nur dank Vergessen möglich sei. Das ist ein schwerer Irrtum. Es gibt keine Versöhnung, solange es keine Gerechtigkeit gibt.

Unter dem Druck der Familien und der Zivilgesellschaft hat die Regierung im Jahr 2000 – zehn Jahre nach Ende des Kriegs – endlich eine Untersuchungskommission eingesetzt. Aber es wurde keine ernsthafte Arbeit geleistet. Die Kommission reichte einen Bericht von lächerlichen drei Seiten ein. Darin steht, die 17’000 Vermissten seien tot.

Das stimmt aber nicht. Nach der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts wurden Personen, die für tot erklärt waren, von den syrischen Behörden freigelassen. Sie waren seit dem Ende des Kriegs ganz einfach in deren Gefängnissen gesessen.

Im Klartext: Die libanesische Regierung übernahm Verantwortung nur zum Schein, in Wirklichkeit wurde das Problem gar nicht ernsthaft untersucht.

swissinfo: Wie ist diese Haltung zu erklären?

H. N: Viele der gegenwärtigen Politiker waren während des Kriegs aktiv. Einige Milizenchefs wurden gar auf Ministerposten gehievt. Eine ernsthafte Untersuchung der Frage der Verschwundenen könnte ihre jetzige Stellung beeinträchtigen. Deshalb erledigen sie das Dossier lieber still und leise.

Das ist umso absurder, als die Vereinigungen, die sich mit der Frage der Verschwundenen beschäftigen, keine Bestrafung fordern, sondern nur eine einfache Anerkennung der Tatsachen. Nicht nur, damit die Familien Frieden finden, sondern auch, um den Frieden der künftigen Generationen zu gewährleisten.

swissinfo: Welche Forderungen stellt der Ausschuss der Familien von Verschwundenen im Libanon?

Wir wollen Auskunft über das wirkliche Schicksal der als verschwunden gemeldeten Personen. Sind sie tot oder sitzen sie noch in Gefängnissen im Libanon, in Syrien oder Israel?

Ausserdem müssen die sterblichen Überreste jener Menschen, die wirklich umgekommen sind, heimgebracht oder zurückgeholt werden. Im Libanon sind Dutzende von Massen- und Gemeinschaftsgräbern bekannt. Die Leichen müssen ausgegraben und identifiziert werden.

Auch die Familien darf man nicht vergessen. Sie müssen entschädigt werden und psychologische Betreuung erhalten.

Der Ausschuss wünscht ferner die Errichtung einer Gedenkstätte für die Verschwundenen. Wir haben die Pflicht, aller Toten zu gedenken, die keine Bestattung hatten.
swissinfo-Interview: Vanda Janka
(Übertragen aus dem Französischen von Charlotte Egger)

13. April 1975: Im Libanon entflammt ein Bürgerkrieg.
Juni 1976: Massiver syrischer Truppen-Einmarsch im Libanon im Kampf gegen die PLO und die nationalen libanesischen Bewegungen.
6. Juni 1982: Beginn der israelischen Invasion im Libanon.
14.-18. September 1982: Ermordung des neuen libanesischen Präsidenten Bechir Gemayel. Einmarsch der israelischen Armee in Ostbeirut. Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila.
14. März 1989: “Befreiungskrieg” gegen Syrien, was einen blutigen christlichen Bürgerkrieg zur Folge hatte.
Oktober 1990: Ende des internen Konflikts.
22. Mai 1991: Die syrische und die libanesische Republik unterzeichnen einen Verbrüderungs- und Zusammenarbeits-Vertrag.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft