Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Ein Schweizer als Schiedsrichter-Psychologe

Mattia Piffaretti bewundert die Schiedsrichter und ihre sportlichen und fachlichen Leistungen. Le Matin/Laurent Crottet

Zahlreiche Fehlentscheide von Schiedsrichtern haben einige Spiele der Euro 08 geprägt. Die Spielleiter werden oft hart kritisiert, sie müssen eine dicke Haut haben. Deshalb werden sie vom Sportpsychologen Mattia Piffaretti betreut.

Ein grosszügig gegebenes Tor für Holland gegen Italien, weil ein Italiener hinter der Grundlinie das Abseits “aufgehoben” hat. Ein absolut regelkonformes Tor der Italiener gegen Rumänien annuliert. Eine rote Karte für einen russischen Spieler gegen Holland, die wieder zurückgenommen wird, weil der Ball ausserhalb des Spielfeldes war. Nicht gepfiffene Penaltys, nicht geahndete Fouls, usw.

Seit Beginn der Euro 2008 stehen die Schiedsrichter und ihre Entscheidungen – wie üblich – im Zentrum der Kritik. Das Leben der Spielleiter ist nicht immer leicht, sie müssen innerhalb von wenigen Sekunden Entscheide treffen und können die Fernsehbilder erst nach dem Spiel sehen.

Um sich möglichst optimal auf ein Spiel vorzubereiten oder um ihr Herz nach einem Spiel auszuschütten, legen sich die Euro-Schiedsrichter auf die Coach des Schweizer Sportpsychologen und ehemaligen Basketballspielers Mattia Piffaretti.

swissinfo: Wie und warum sind Sie dazu gekommen, die Euro-Schiedsrichter zu begleiten?

Mattia Piffaretti: Meine Zusammenarbeit mit dem Europäischen Fussballverband UEFA begann vor drei Jahren. Ich gab Ausbildungskurse für internationale Schiedsrichter, die Champions League- oder UEFA-Cup-Spiele leiten.

Während den Ausbildungskursen arbeite ich mit Modulen zur mentalen Vorbereitung: Konzentration, Kommunikation, Konfliktmanagement mit Spielern, Umgang mit Stress. Kurz gesagt alle Faktoren, die beim Sport und bei der Spielleitung auf höchstem Niveau eine Rolle spielen. Die UEFA hielt es für wichtig, die Schiedsrichter der Euro 08 mental gut vorzubereiten. Deshalb hat sie mich damit beauftragt.

swissinfo: Und wie arbeiten sie nun mit ihnen?

M.P.: Meine Aufgabe ist vertraulich. Ich kann auf keinen Fall den Inhalt der Gespräche, die ich während des Turniers führe, verraten. Ganz allgemein aber gliedert sich meine Intervention in mehrere Stufen.

Ich habe zuerst mit der ganzen Schiedsrichtergruppe gearbeitet. Das war kurz vor dem Beginn des Wettkampfes. Dann habe ich jedes Schiedsrichtertrio individuell und freiwillig angeschaut (fast 80% der Schiedsrichtergruppen haben das Konzept der mentalen Vorbereitung beschlossen), also ein Briefing vor dem Spiel, wo wir Ziele vereinbaren. Während der Begegnung beobachte ich das Schiedsrichtertrio wieder, um ihm in einem Debriefing zu ermöglichen, sich mental wieder zu entladen.

Eine grosse Zahl von Entscheidungen treffen zu müssen, manchmal auch folgenschwere, dies in wenigen Sekunden unter den Augen der Fans und der Kameras, ist eine grosse Belastung. Die Schiedsrichter müssen sich der angesammelten Spannungen entladen können, um sich optimal für das nächste Treffen vorzubereiten, das bei dieser Art von Wettkampf meist sehr rasch stattfindet.

swissinfo: Wie beurteilen Sie die Schiedsrichter?

M.P.: Die Schiedsrichter sind Spitzensportler, mit dem Unterschied, dass sie ihren Sport im Alter von 35 bis 45 Jahren ausüben, wo andere Spitzensportler nicht mehr aktiv sind. Sie haben oft auch eine grosse Verantwortung ausserhalb des Sports, eine Familie, usw. Sie bringen Führungserfahrung mit, die ihnen erlaubt, in heiklen Situationen ruhig und klar zu entscheiden. Jeden Tag entdecke ich mehr von der wichtigen Rolle, die sie bei den Fussball-Begegnungen spielen.

swissinfo: Dank Ihrer Funktion haben Sie die Euro 08 etwas anders erlebt. Wie beurteilen sie dieses Ereignis?

M.P.: Mein Mandat endet mit dem Final. Ich habe dieses Event wie die Olympischen Fussball-Spiele für Europa erlebt. Ein Anlass, der für mich mehr als ein reines Sportereignis war.

Ich habe viele Situationen erlebt, die mich berührt haben, etwa wenn ich sehe, wie die Fans zur Nationalhymne des Gegners applaudieren. Das zeigt mir, dass Fussball mehr als Wettkampf und “Gewalt” ist, sondern auch ein Moment der Begegnung.

swissinfo-Interview, Mathias Froidevaux
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud & Etienne Strebel)

Mattia Piffaretti ist 40 Jahre alt, verheiratet und hat 3 Kinder.

Der ehemalige Luganeser Nationalliga-Basketballspieler spielte unter anderem in Pully (wo er Meisterschaft und Cup gewann), beim SF Lausanne, Vevey und Saint-Prex.

Abschluss in Geisteswissenschaften (Englisch, Italienisch, Philosophie) und Psychologie. Seit 1997 steht er an der Spitze der AC&T Sport Consulting.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft