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“Klimaflüchtlinge werden nicht in Strömen kommen”

Keystone

Die menschliche Seite des Klimawandels verdiene mehr Aufmerksamkeit, sagt Etienne Piguet im Vorfeld der Internationalen Klimakonferenz in Kopenhagen. Im Interview spricht der Migrationsexperte der Universität Neuenburg über das Schicksal von Klimaflüchtlingen.

“Man weiss immer mehr über die Zahl der Personen, die möglicherweise Opfer des Klimawandels werden”, sagt Etienne Piguet.

“Man weiss auch, dass ein Teil dieser Menschen zur Migration gezwungen werden, aber dass nur eine Minderheit auswandern wird oder wird auswandern können.”

Dieses Ergebnis sei wichtig angesichts der Panik, die manchmal aufkomme und bereits Wellen von Klimaflüchtlingen auf die reichen Länder zuströmen sehe.

“Das ist ein Irrtum, der perverse Auswirkungen hat und das Gefühl verleiht, man müsse sich mehr gegen Migranten wappnen”, betont er.

“Die Zahl der Asylsuchenden in der Schweiz wird wegen des Klmawandels nicht ansteigen. Auch wenn die Leute umsiedeln, tun sie dies eher auf kürzerer Distanz, möglicherweise ziehen sie in benachbarte Länder. Ein grosser Teil zieht aber gar nicht um.”

swissinfo.ch: Was veranlasst die Menschen jetzt und in Zukunft, umzuziehen?

Etienne Piguet: Man muss zwischen den Ereignissen, welche die Menschen zur Abwanderung zwingen, unterscheiden: Das sinnbildliche Beispiel ist das Ansteigen des Wassers, vor allem wenn der Meeresspiegel irgendwann um zehn Meter höher liegt als jetzt. Dann gibt es andere Folgen des Klimawandels wie veränderte Regenzeiten, die Zunahme von Trockenheit oder die Häufigkeit von Orkanen.

Man muss auch differenzieren zwischen schrittweisen Entwicklungen, unmittelbaren und brutalen Ereignissen, die infolge des Klimawandels auftreten können, wie Erdrutsche in den Anden zum Beispiel, welche zu einer vorübergehenden Umsiedlung der Bevölkerung in der näheren Umgebung führen können – mit einer späteren möglichen Rückkehr, wie das verschiedene Studien zeigen.

Der Anstieg der Meeresspiegel ist im Gegensatz dazu ein typisches Beispiel für eine schrittweise Entwicklung: Der Pegel steigt jährlich um einige Millimeter.

Die fortschreitende Verwüstung ist ein weiteres Beispiel. In diesen Fällen erfolgen die Migrations-Bewegungen viel langsamer, aber ohne das Phänomen der Rückkehr für die Menschen. Die Migration ist geplant und relativ definitiv.

swissinfo.ch: Weiss man etwas über die Anzahl von Menschen, welche in diesen Fällen wegziehen müssten?

E.P.: Im Fall des Wasseranstiegs gibt es Hochrechnungen in Bezug auf die Bewohner, die auf der jeweiligen Höhe leben. Man spricht von 150 Millionen Personen, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel wohnen und 600 Millionen auf weniger als 10 Metern.

Um aber bei der Grössenordnung von Metern zu bleiben, ist zu sagen, dass die Migration nicht unvermeidbar ist. Der Bau von Dämmen ist noch möglich. Das niederländische Parlament hat im vergangenen Dezember einen beträchtlichen Kredit gesprochen, um das System von Poldern und Deichen zu verbessern. Aber auch wenn die Niederlande dafür die nötigen Mittel aufbringen können, hat Bangladesch weniger Möglichkeiten.

swissinfo.ch: Zurück zu den Zahlen: Wie viele Klimaflüchtlinge gibt es heute, wie viele morgen?

E.P.: Militantere Organisationen haben Zahlen auf den Tisch gelegt und sprechen von 200 Millionen Umweltmigranten, die es bereits heute gibt. Diese Zahlen sind wissenschaftlich wenig fundiert.

Bei den Forschern gibt es einen klaren Konsens. Er besteht darin, dass eine wahrhaftige Zählung auf weltweiter Skala abgelehnt wird. Einfach deshalb, weil in den meisten Fällen zahlreiche Faktoren miteinbezogen werden müssen. Dies erlaubt es nicht, diese Personen als Klimamigranten zu benennen.

Nehmen wir als Beispiel einen armen Bauern aus Bangladesch, der einer unterprivilegierten Kaste angehört. Er kann in seinem Dorf nicht von einem angemessenen Gesundheitssystem profitieren und zieht mit seiner Familie Richtung Hauptstadt. Ist er ein Klimaflüchtling? Eine Antwort ist unmöglich. Bei welcher Umwelt auch immer – wäre ihm eine andere Infrastruktur zu Verfügung gestanden, wäre er vielleicht nicht migriert.

Und was die Hochrechnungen betrifft, da zirkulieren alle möglichen Zahlen, die bis zu einer Milliarde Vertriebenen reicht. Aber es existieren keine Methoden, um Schätzungen von Zahlen aufzustellen zu Fällen, die so unterschiedlich sind. Auf der einen Seite geht es um den Anstieg der Wasserpegel, auf der anderen Seite um die Zunahme der Häufigkeit von Orkanen.

swissinfo.ch: Kann man sagen, dass besonders die armen Länder von Klimaflüchtlingen betroffen sein werden?

E.P.: Ja, alleine deshalb, weil ihre Bevölkerungen in den Risikozonen grösser sind. Und auch weil sich der grösste Teil der vorgesehenen Verschlechterungen auf die tropische und subtropische Zone konzentrieren wird.

Dort werden die Folgen zum Beispiel für die landwirtschaftliche Produktivität und in Bezug auf den Ausbruch von Krankheiten besonders spürbar sein.

swissinfo.ch: Trägt die internationale Gemeinschaft der Frage von Klimaflüchtlingen genügend Rechnung, und was ist von der Konferenz in Kopenhagen zu erwarten?

E.P.: Die humanitäre und soziale Dimension des Klimawandels könnte sowohl im politischen Bewusstsein wie auch in der Forschung erheblich verstärkt werden.

Jede konkrete Erwähnung in der Schlusserklärung von Kopenhagen in Bezug auf die Folgen des Klimawandels für die betroffenen Bevölkerungen wäre eine gute Sache. Ob die Migration explizit erwähnt wird oder nicht, ist eher sekundär. Sie ist nur eine der möglichen Konsequenzen der Klimaveränderung.

swissinfo.ch: Entspricht die Migrations-Politik der Problematik der Klimaflüchtlinge?

E.P.: Die Politik ist noch nicht angepasst. Aber eigentlich muss die humanitäre Politik im weiteren Sinne überdenkt werden. Mit dem Ziel, die Mechanismen bezüglich Solidarität auf globaler Ebene besser zu regeln (Intervention im Fall von Katastrophen, Mobilisierung von Hilfe, Kostenteilung).

Auf der Ebene der UNO zum Beispiel ist die Koordination zwischen den verschiedenen Agenturen, die sich um humanitäre Fragen und auch um Flüchtlinge kümmern, relativ schwach.

Der Schutz von intern Vertriebenen ist eine grosse Herausforderung und stellt das grösste Problem. Es geht also nicht nur darum zu sagen, die westlichen Länder müssten sich mehr öffnen, um Klimaflüchtlinge aufzunehmen. Klar kann man sich vorstellen, dass auf diesem Gebiet etwas passiert. Aber das Hauptproblem stellt sich vor Ort.

Pierre-François Besson, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

“Es ist augenfällig: Es braucht heute politische Antworten, um die Anpassung an die Klimaveränderungen durch die Mobilität der Menschen zu erleichtern”, sagt Jean-Philippe Chauzy, Sprecher der Internatioalen Organisation für Migration (IOM).

Welche Antworten und dringenden Massnahmen könnten das sein? “Diese Fragen müssten ganz zuoberst auf der Agenda stehen”, plädiert Chauzy. “Man wird sehen, was Kopenhagen bringt, und ob das Wort ‘Migration’ im Schlussdokument vorkommt. Für uns ist es unbegreiflich, dass die internationale Gemeinschaft das Thema der Klimaflüchtlinge ausklammern könnte.”

An der UNO-Konferenz in Kopenhagen vom 7.-18. Dezember geht es um ein Klimaabkommen, das das Kyoto-Protokoll ab 2012 ersetzen soll. Die Verhandlungen drehen sich um eine Verringerung der schädlichen Auswirkungen menschlichen Handelns auf das Klima und um Anpassungen an den Klimawandel.

Wieviel. Die IOM spricht von 250 Millionen bis zu einer Milliarde Personen, die in Folge des Klimawandels und der Schädigung der Umwelt bis 2050 zur Auswanderung oder Vertreibung gezwungen werden könnten.

Wo. Diese Bewegungen werden vor allem die Länder des Südens betreffen. Die Bevölkerungsbewegungen werden zuerst innerhalb der Länder und betroffenen Regionen stattfinden.

Recht. Der rechtliche Status von Klimaflüchtlingen kommt im internationalen Recht nicht vor.

swissinfo.ch

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