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Parlamentsarbeit als “Lektion in Bescheidenheit”

Chiara Simoneschi-Cortesi (links) spricht mit Martine Brunschwig Graf. Keystone

Auch dieses Jahr kandidieren rund 80% der Parlamentarier für eine weitere Legislatur von vier Jahren. Nur 50 der 246 National- und Ständeräte ziehen es vor, sich zu verabschieden. Vier davon ziehen eine Bilanz ihrer langjährigen Erfahrungen.

Martine Brunschwig Graf, Chiara Simoneschi-Cortesi, Christoffel Brändli, Christine Goll: Für sie wird die Dezember-Session des Parlaments zur letzten. Nach 8 respektive 12, 16 und 20 Jahren haben diese vier angekündigt, den Schlüssel für ihr Mandat zurückzugeben.

Die Vier haben in Bern die vier grossen Regierungsparteien vertreten und sich in der Kampfzone des Bundeshauses um nicht selten gegensätzliche Positionen geschlagen.

Auf der linken Seite die feministische Zürcher Sozialdemokratin Christine Goll, rechts der Bündner Ständerat Christoffel Brändli von der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der seiner Partei auch nach der Abspaltung jener Gemässigten, die die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) gründeten, treu geblieben ist.

In der Mitte die Tessinerin Chiara Simoneschi-Cortesi von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), die letztes Jahr auch den Vorsitz des Nationalrats übernahm, und Martine Brunschwig Graf von der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), die nach Bern kam, nachdem sie sich in der Genfer Regierung einen Namen gemacht hatte.

Eine spannende Arbeit

Obschon sie unterschiedliche politische Visionen vertraten, ziehen alle vier eine positive Bilanz ihrer Arbeit im Parlament. “Es war sehr anstrengend, aber spannend”, sagt Simoneschi-Cortesi. “Besonders die Bemühungen rund um das Voranbringen der Frauenanliegen, der Umwelt, der Verkehrs- und Kulturpolitik sowie der Bildung.”

Sie glaube, dass die Ratsarbeit auch eine Lektion in Bescheidenheit umfasse. Es braucht ein geduldiges, aber alle Kräfte nutzendes Verhandeln, um einen Konsens zu erreichen. Ich kam von einer Kantonsregierung, wo viel schneller und autonomer entschieden werden konnte”, sagt Martine Brunschwig Graf. “Doch ich bin zufrieden, dass ich mit wichtigen Anliegen erfolgreich vorwärts machen konnte, wie zum Beispiel den bilateralen Verträgen mit der EU und dem freien Personenverkehr.” Beides seien Pfeiler für eine gesunde Schweizer Wirtschaft.

“Wenn ich zurück schaue, bin ich froh, dass wir es in den letzten 20 Jahren geschafft haben, den Abbau der Sozialstaats und der AHV zu verhindern”, sagt Christine Goll. “Und dass wir die Schweiz etwas sozialer ausgestalten konnten, zum Beispiel mit der Einführung der obligatorischen Mutterschaftsversicherung mit den Kinderzulagen.” Gerade in dieser Phase

der wirtschaftlichen Unsicherheit sei es äusserst wichtig, in der Schweiz die Solidarität und soziale Kohäsion zu bewahren.

“Ich glaube, etwas für meinen Kanton bewegt zu haben. Ich bin sehr zufrieden, die Demokratie und die Freiheiten in unserem Land verteidigt zu haben, dadurch, dass ich dafür gekämpft habe, dass unser Land ausserhalb der EU bleibt”, sagt wiederum Christoffel Brändli.

Partikularinteressen

Positive Bilanzen also, wenn auch aus verschiedenen politischen Spektren, die jedoch in einem gewissen Sinn das schweizerische politische Modell spiegeln: Es gibt nicht nur Gewinner oder Verlierer, wie das in Ländern mit einer Mehrheit und einer Opposition der Fall ist.

Das Spiel der Allianzen mit variabler Geometrie, das die Beziehungen zwischen den vier grossen Parteien ausmacht, ermöglicht es jeder Seite, sich immerhin bei gewissen Themen Erfolge zu sichern. Oder, in letzter Instanz, bei Wahlen und Abstimmungen das Plazet des Stimmvolks zu erhalten.

Ein Modell, das nicht nur Konsens-Entscheide hervorbringt, zumindest was die parlamentarische Arbeit betrifft. “Das Milizparlament hat nun seine Grenzen erreicht”, sagt Chiara Simoneschi-Cortesi. “Die Arbeit ist immer komplexer geworden, und es wird immer schwieriger, noch einem eigenen Beruf nachzugehen, wenn man in einer oder zwei Kommissionen eingespannt ist.” So bestehe das Risiko, dass man sich von den verschiedenen Lobbys kaufen lasse, die sich aber nur auf die Verteidigung von bestimmten Partikularinteressen beschränken, statt das Gemeinwohl des Landes zu unterstützen.

“Es bräuchte aber angemessen Löhne und Sozialleistungen, um skandalöse Situationen zu vermeiden. Wie zum Beispiels jene, dass Parlamentarier im Saal während der Session Dokumente lesen, die sie von den Lobby-Organisationen erhalten haben – ohne sie zu verstehen”, sagt die Tessiner Abgeordnete. Oder wenn die Mehrheit der Gesundheits-Kommission aus Leuten bestehe, die der Branche nahe stünden, als Versicherer, Ärzte, Spitalbetreiber oder Apotheker.

“Persönlich bleibe ich unserem Milizparlament nach wie vor sehr verbunden”, sagt Brunschwig Graf. “Ihm wird vorgeworfen, es arbeite langsam und ineffizient. Doch gerade in dieser Legislatur haben wir bewiesen, dass wir fähig waren, schnelle Entscheide in wichtigen Bereichen zu treffen, zum Beispiel bei der UBS-Rettung, Beim Programm der konjunkturellen Stabilisierung oder bei den Massnahmen zur Bekämpfung der Folgen des teuren Frankens.”

Personalisierung der Politik

Die vier Parlamentarier blicken auf zwei, drei, vier oder gar fünf Legislaturen zurück, während denen die schweizerische Politik grosse Veränderungen durchgemacht hat. “Ich nehme eine wachsende Personalisierung in der Politik zur Kenntnis, vor allem seitens der Medien, zum Nachteil der Hintergrund-Themen”, sagt Goll.

“Auch fällt mir auf, dass sich die Demokratie verstärkt kaufen lässt. Während des Wahlkampfs schwingen jene Parteien oben aus, die das Land mit Propaganda-Plakaten vollpflastern.” Es sei deshalb der Zeitpunkt gekommen, die Finanzierung der Parteien respektive deren Transparenz zu regulieren, damit alle gleich lange Spiesse hätten.

Die Sozialdemokratin bedauert, wie Simoneschi-Cortesi auch, eine Verhärtung der Schweizer Politik parallel zum Aufstieg der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der vorgeworfen wird, seit Jahren aus wahlkampftaktischen Gründen eine aggressive Politik zu betreiben.

Was Christoffel Brändli von sich weist. “Es ist zu einfach, unserer Partei einfach die Schuld dafür zu geben”, entgegnet er. Bis 1999 habe die Schweiz eine Konkordanz-Regierung gehabt, in der die vier wichtigsten Parteien proportional zu ihrem Wählerpotenzial vertreten gewesen seien.

“Als die SVP zum wichtigsten politischen Lager im Land aufrückte, haben sich die anderen geweigert, ihr einen zweiten Bundesratssitz zuzugestehen.” Deshalb sei klar, so Brändli, dass auf diese Weise die Spannungen nur noch verstärkt worden und die SVP in ihre Rolle als Oppositionspartei gedrängt worden sei.

Der Nationalrat ist die Schweizer Parlamentskammer (Legislative) der Volksvertreter oder Abgeordneten (grosse Kammer).

Der Rat zählt 200 Parlamentarierinnen und Parlamentarier und vertritt das Schweizer Volk. Auf je 35’000 Einwohnerinnen und Einwohner eines Kantons kommt derzeit ein Mitglied im Nationalrat.

Das einzelne Ratsmitglied wird “Nationalrat” oder “Nationalrätin” genannt. Nationalrat und Ständerat bilden zusammen die Vereinigte Bundesversammlung (Parlament).

Der Ständerat ist die Schweizer Parlamentskammer (Legislative) der Kantonsvertreter (kleine Kammer).

Er zählt 46 Mitglieder, welche die Kantone vertreten. Jeder Kanton ist ungeachtet seiner Einwohnerzahl mit zwei, die Halbkantone mit einem oder einer Abgeordneten vertreten.

Als Halbkantone gelten Obwalden, Nidwalden, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden. Das einzelne Ratsmitglied wird “Ständerat” oder “Ständerätin” genannt.

Die Tessiner Christdemokratin Chiara Simoneschi-Cortesi, Jahrgang 1946, war 1999 zum ersten Mal in den Nationalrat gewählt worden. Sie war Mitglied der Kommissionen für Verkehr und Fernmeldewesen, sowie Bildung und Kultur.

Christine Goll, 1956, war 1991 als Vertreterin der Zürcher Feministen-Organisation FraP (Frauen machen Politik) gewählt worden. Seit 1998 vertritt sie die Sozialdemokratische Partei. Sie war Mitglied der Kommissionen für Geschäftsprüfung, für soziale Sicherheit und Gesundheit.

Die freisinnige Martine Brunschwig Graf, 1950, sass von 1992 bis 2005 in der Genfer Kantonsregierung. Seit 2003 ist sie im Nationalrat. Sie sass in den Kommissionen für Aussenpolitik und für Finanzen.

Der SVP-Ständerat Christoffel Brändli, 1943, wurde 1995 in die Kleine Kammer gewählt, nach 12 Jahren Erfahrung in der Bündner Kantonsregierung. Er war aktiv in den Kommissionen für die Sicherheit, Gesundheit, Verkehr und Fernmeldewesen, Umwelt, Energie.

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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