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Revolution und hohle Zähne

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Der Westschweizer François Joss zog nach Nicaragua, als Anfang der 80er-Jahre die Begeisterung für die sandinistische Revolution nach Europa überschwappte. Die internationalen Brigaden sind mittlerweile längst abgezogen, Joss ist geblieben.

Wenig deutete 1983 darauf hin, dass die Begeisterung, die François Joss für die sandinistische Revolution damals empfand, lebensbestimmend werden würde. In den siebziger Jahren liess er sich in Lausanne zum Zahntechniker ausbilden, machte nach einigen Jahren Berufserfahrung sein Hobby zum Beruf und wurde Jazz-Trompeter.

Doch weder Handwerk noch Kunst hielten Joss in der Schweiz. Er begann zu reisen, gelangte in die USA, nach Kanada und Uruguay und schliesslich auch nach Zentralamerika.

Der junge Westschweizer fühlte sich von der solidarischen Gesellschaft und der genossenschaftlichen Idee der sandinistischen Rebellen von Nicaragua angesprochen.

Künstliche Zähne für die Revolution

1983 zog Joss nach Managua, baute für eine Regierungsstelle ein Zahntechnik-Labor auf und bildete Lehrlinge aus: “Es gab damals nichts in meinem Berufsfeld. Mit Hilfe der Schweiz und von Kanada bauten wir ein Labor auf”, erklärt François Joss im Gespräch mit swissinfo.ch.

Der junge Joss genoss die Aufbruchstimmung, die Freiheit und die Unterstützung der Regierung für das neue Projekt. “Die Leute waren motiviert, glaubten an den sozialen Wandel, auch wenn es an allem fehlte.” Später setzte Joss seine Aufbauarbeit in Nicaragua für die Nicht-Regierungsorganisation “Hermanos sin Frontera” fort.

Einschneidend wurde das Jahr 1990, als die bürgerliche Opposition, angeführt von Violetta Barrios de Chamorro, den Sandinisten das höchste Amt im Staat mit dem Stimmzettel abtrotze. “Die sandinistische Revolution brach ein, und die Gesellschaft wandelte sich rasch von einer solidarischen in eine individualistische”.

Ende der Revolution – Anfang der Selbständigkeit

Der Wandel ging an François Joss nicht vorbei. Er machte sich selbständig, gründete 1996 auf privater Basis in Managua ein zahntechnisches Labor mit einem Lehratelier, das er seither ständig ausgebaut und erweitert hat.

Heute bohrt, schleift, modelliert und formt ein Team von mehr als einem Dutzend Mitarbeitern in seinem Atelier, produziert künstliche Zähne und Zahnprothesen. “Wir arbeiten für mehr als 70 Zahnärzte im In- und Ausland, und ich habe bisher 18 Zahntechniker ausgebildet.”

François Joss versucht die humanitäre Komponente in seinem privatwirtschaftlich geführten Zahnlabor nicht zu vernachlässigen. “Weil Zahntechniker ihr Metier sitzend ausüben können, eignet sich der Beruf auch für körperlich behinderte Menschen.”

Joss will neu auch gehbehinderte Lehrlinge ausbilden. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) unterstützt das neue Projekt des Westschweizers mit einer Starthilfe von rund 20’000 US-Dollar.

Nicaragua – eine Gesellschaft im Wandel

Was hat sich in den vergangenen dreissig Jahren in Nicaragua verändert? François Joss muss für seine Antwort nicht lange nachdenken: “Nicaragua ist heute wie überall in der Region wieder eine individualistische und neoliberale Gesellschaft.”

Damit kann Joss gut leben. Problematischer sind heute bei der praktischen Arbeit die ausufernde staatliche Bürokratie, die strukturellen Lücken in der Verwaltung und die Kontrollen: “1992 gab es in Nicaragua den Beruf Zahntechniker nicht. Die Bürokratie teilte mich bei der Steuerberechnung bei den Automechanikern ein.”

Heute hätte dieser bürokratische Pragmatismus keine Chance mehr, glaubt François Joss. “Seit Jahren warte ich bei den Ministerien in Managua auf einen Bescheid, damit ich den Lehrabgängern meines Labors einen staatlich anerkannten Fähigkeitsausweis aushändigen kann.”

Joss macht weiter – unter geänderten Vorzeichen

Bei der strukturellen Aufbauarbeit, die François Joss im Lehrlings- und Ausbildungswesen von Nicaragua leistet, bleibt einiges in der Schwebe. Klein kriegen lässt sich der Schweizer nicht: “Ich kann das System nicht ändern. Aber ich gebe 18 Mitarbeitern eine Arbeit, die damit ihre Familien ernähren. Und jeder Lehrling, der sich nach der Ausbildung bei mir selbstständig macht, wird auch wieder Arbeitsplätze schaffen.”

Bedenklich findet François Joss, wie unvorbereitet die Menschen in Nicaragua in den neoliberalen Wildwuchs von Zentralamerika katapultiert wurden. “Es sind nicht nur die internationalen Brigadisten abgezogen. Nach dem Strukturwandel, der 1990 begann, ist auch die Idee der genossenschaftlichen Produktion kein Thema mehr. Jeder arbeitet hier wieder für sich.”

Ungeachtet der äusseren Umstände plant François Joss, sein zahntechnisches Atelier in Managua weiter zu führen, sich an Universitäten und bei Berufsgremien für die Aus- und Weiterbildung von Zahntechnikern in Nicaragua einzusetzen. An schlechten Zähnen wird es nicht fehlen.

Erwin Dettling, Managua, swissinfo.ch

Das zahntechnische Labor von François Joss importiert die meisten Materialien, Instrumente und Werkzeuge aus der Schweiz. Dafür bezahlt er Weltmarktpreise.

Die fertigen zahntechnischen Arbeiten muss er jedoch zu lokalen Preisen und Tarifen verkaufen, die einen Zehntel der Preise der Schweiz ausmachen.

Joss löst den Konflikt mit einem grösseren Ausstoss und mit billigen Arbeitskräften.

Am 19. Juli 1979 stürzten Rebellen des Frente Sandinista de Liberacion Nacional (FSLN) die Diktatur von Anastasio Somoza.

Nach einer ersten Begeisterungswelle für die soziale und politische Revolution in Nicaragua gerieten die linksgerichteten Rebellen unter Druck der USA, die eine Gegenrevolution (Contra) unterstützten.

1990 verloren die Revolutionäre in einer demokratischen Wahl die Macht im Staat an ein bürgerliches Bündnis, das von Violetta Barrios de Chamorro im Präsidentenpalast angeführt wurde.

In der Folge bereicherten sich die sandinistischen Kader schamlos am Volksvermögen, übernahmen Häuser, Villen und Produktionsbetriebe.

Heute ist Nicaragua nach Haiti das zweitärmste Land von Iberoamerika. Das Land zwischen El Salvador (N) und Costa Rica (S) ist im zentralamerikanischen Wirtschafts- und Entwicklungsbündnis eingebunden.

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