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Lücken im Sozialstaat Schweiz

Die Zusammenarbeit Arbeitssuchende und Behörden muss noch besser werden, sagt eine NFP-Studie. Keystone

Bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und der Entlastung von Armen erfüllt der Schweizer Sozialstaat seine Aufgaben nur ungenügend.

Die Mittel müssten zielgerichteter eingesetzt und das Steuersystem gerechter werden, fordert ein nationales Forschungsprogramm.

Die grosse Herausforderung des Schweizer Sozialsystems ist laut einem umfassenden Nationalen Forschungsprogramm (NFP) die Integration von wenig qualifizierten Menschen in den Arbeitsmarkt.

Arbeitnehmenden unter der Armutsgrenze helfe das System der sozialen Sicherheit zudem nur ungenügend, erklärten die Autoren am Donnerstag in Bern.

Denn, wer in der Schweiz längere Zeit ohne Arbeit sei, finde kaum mehr Anschluss an den Arbeitsmarkt. Zwar sei der schweizerische Arbeitsmarkt flexibel, benachteiligt seien aber schlecht Qualifizierte, Frauen und Junge.

Meist würden die Menschen nach einem langfristigen Demotivationsprozess aus dem Arbeitsmarkt fallen. “Arbeitslosigkeit ist lernbar”, beschrieb Ludwig Gärtner vom Bundesamt für Sozialversicherungen die Situation.

Ziel der Studien mit einem Gesamtbudget von 10 Mio. Franken war es, Grundlagen für politische Entscheide bereit zu stellen.

Berufliche Qualifikation wird nicht verbessert

Die Studien stellten dabei dem Schweizer Arbeitsmarkt ein gutes Zeugnis aus: Er sei flexibel und nicht in Teilbereiche mit guten und schlechten Jobs aufgeteilt.

Die Arbeitsplatzsicherheit habe in den 1990er-Jahren mit Ausnahme von Bau- und Gastgewerbe sowie der IT-Branche nicht generell abgenommen. Verschlechtert habe sich aber die Lage der schlecht qualifizierten Menschen, vor allem, wenn Frauen oder jüngere Arbeitnehmende betroffen seien.

Bei Menschen an der Armutsgrenze kämen zu den finanziellen Schwierigkeiten oft noch Gesundheits- und Beziehungsprobleme sowie die Herkunft aus einer anderen Kultur hinzu.

Die Integrationsmassnahmen bei Arbeitslosenversicherung (ALV), Invalidenversicherung (IV) und Sozialhilfe seien diesbezüglich nur beschränkt erfolgreich. Sei es, weil nur wenige daran teilnehmen könnten oder weil die Programme die berufliche Qualifikation nicht verbesserten.

Arbeit soll sich lohnen

Das NFP empfiehlt, die Massnahmen zur Wiedereingliederung ins Erwerbsleben gezielt auf die individuelle Situation der Betroffenen abzustimmen.

Zusätzliche finanzielle Mittel für Integrationsmassnahmen zahlten sich aus. Die verschiedenen Unterstützungssysteme – Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe – müssten besser untereinander vernetzt werden.

Gefordert wird sodann die Entlastung der tiefen Einkommen. Zwischen hohen und tiefen Einkommen gebe es keine Umverteilung. “Wer an der Armutsgrenze lebt, beteiligt sich prozentual gleich stark am sozialen Ausgleich wie jemand mit sehr hohem Einkommen”, sagen die Autoren.

Besonders schmerzlich spürten dies Familien mit schwachem Einkommen. Arbeitslose und Working Poor brauchen laut NFP ein System von Beschäftigungsmöglichkeiten und Unterstützungsleistungen, das so ausgestaltet ist, dass sich Arbeit lohnt. Vor allem Kosten für Kinder müssten gesellschaftlich gerechter verteilt werden.

Bei IV und Behinderten sei von entscheidender Bedeutung, ob und wie jemand vor der Behinderung beruflich tätig gewesen sei. Bei beginnender Invalidität müssten deshalb früh Massnamen ergriffen werden, damit betroffene Personen die Stelle behalten könnten. Modelle, die auch potenzielle Arbeitgeber unterstützen, seien erfolgversprechend.

Ungerechtes Steuersystem

Ferner sei das Schweizer Steuersystem ungerecht. Bei ider sozialen Sicherheit fehle ein Ausgleich zwischen Arm und Reich.

Nur höhere Einkommen könnten in der Steuererklärung grosse Beträge – zum Beispiel bei Berufsauslagen oder Einzahlungen in die Dritte Säule – abziehen. Weil ärmere Schichten diese Abzüge nicht machen könnten, seien diese aus dem Blickwinkel der sozialen Absicherung nicht gerechtfertigt.

swissinfo und Agenturen

Das Nationale Forschungsprogramm 45 (NFP 45) wurde im Herbst 2000 begonnen und dauerte vier Jahre.

Das Programm verfügte über ein Budget von 10 Mio. Franken.

Total wurden 35 Studien zu vier Hauptthemen verfasst: Arbeitsmarkt/Arbeitslosigkeit, Behinderung/Invalidität, öffentliche Gesundheit und Sozialpolitik.

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